Anna und der Grünspecht

Es ist Vorfrühling, einer der ersten wirklich warmen Tage im Jahr. In den dunklen Ecken ist die Erde noch feucht, die Wege sind noch nicht gesäubert vom Rollsplitt und die Knospen der Bäume sind noch nicht aufgesprungen. Draußen schäkert der Grünspecht. Ich laufe nicht wie sonst zum Fenster, um ihn zu beobachten. Stattdessen schiebe ich hastig den Puppenwagen unter den Schreibtisch. Ich bin ganz außer Atem, denn ich habe ihn allein durch das Stiegenhaus in den ersten Stock hinaufgezerrt. Meine neue Puppe liegt drinnen, mit einem Polster über dem Gesicht. Ich will sie nicht anschauen müssen. „Gefällt sie dir?“, hat die Mutter gefragt, als ich sie zu Weihnachten auspackte und mich um ein freudig überraschtes Gesicht bemühte. „Du musst aufpassen auf sie“, hat der Vater gesagt. Sie gefällt mir nicht und ich habe nicht aufgepasst. Ich hab sie nicht beschützen können vor der wilden Theres und jetzt sind die Augen eingedrückt, die kostbaren Klimperaugen, wo ich doch viel lieber eine Kuschelpuppe gehabt hätte, mit einem weichen Gesicht und Augen, die nicht so teuer sind und nicht so leicht kaputtgehen. Die Mutter rumort in der Küche und ich schleiche zum Fenster. Am Spielplatz drüben wühlen die Kinder in der Sandkiste. Theres hat die kaputte Puppe sicher schon vergessen, aber ich nicht, ein Kloß sitzt in meinem Hals. Zum Glück hat die Mutter nichts bemerkt, als ich den Puppenwagen an der Küche vorbei geschoben habe. Niemand darf etwas erfahren von dem Unglück! Ich hülle mich in die Falten des langen Vorhanges. Draußen streckt der Ahornbaum seine kahlen Äste zwischen die weißen Häuserreihen. Der Asphalt auf dem Spielplatz ist so rau, dass mir die Knie wehtun. Der kurzgeschorene Rasen rundherum gehört der Hausmeisterin. Ihr schrilles Gebrüll scheucht uns immer unter die Trauerweiden. Hinter den tief herunterhängenden Zweigen spielen wir dann im hellgrünen Halbdunkel, mit ein bisschen Erde unter den Füßen und weichem vorjährigem Laub, schmalen länglichen Blättern, die so schön durch die Finger rieseln. Bis die Großen kommen und uns verjagen. Ich fürchte mich vor ihnen, aber das weiß niemand.

Ah, etwas Grünes huscht beim Fenster vorbei! Der Grünspecht ist wieder da! Eifrig hüpft er am Stamm auf und ab, hin und her. Seine rote Kappe blinkt, während er hämmert. Wie gern hätte ich eine Feder von ihm, eine grüne, dann könnt ich die Puppe vergessen.

Plötzlich knarrt der Parkettboden im Wohnzimmer unter den Schritten der Mutter. Ich muss mich bemerkbar machen, sonst sagt sie, ich hätte mich angeschlichen. „Schau, Mama, der Grünspecht ist draußen!“ – „Bist du gar nicht im Hof?“, fragt sie. „Die Puppe, die Puppe!“, schreit es in mir, aber ich sage: „Jetzt fliegt er fort!“ Die Mutter schaut mich ratlos an und schüttelt den Kopf. Dann geht sie wieder hinaus. Ich drücke mich noch tiefer in den weichen Vorhang und wünsche mir, es wäre ihr Rock.

(c)Maria Harbich-Engels