Carlas „Frei“-Tod

Durch das Dachfenster fällt Licht auf den tanzenden Staub und wirft meinen Schatten auf den Estrich und auf die Feuermauer. Er hat einen Knick auf der Höhe des Herzens. Der Kopf liegt im Dunklen. Die langen Haare fließen über die schmalen Schultern. Ich taste nach ihnen und mache einen Knoten damit. Knoten machen kann ich gut. Darin hab ich jetzt Übung. Das Seil auf dem Dachbalken wird mich halten, wenn ich vom Sessel springe. Ich hab eine gute Figur, das sieht man auch hier: ein Schatten zwischen Gerümpel. Lange bin ich stolz darauf gewesen. Manche haben es gierig geflüstert. Jetzt ist es genug. Ich brauche nur aus dem Licht zu treten, dann werde ich unsichtbar. Im Dunkeln kommen die Bilder wieder. Sie wirbeln vorbei wie auf dem Ringelspiel. Die Gesichter verwischen. Von Vater ist nur das Ohr deutlich zu sehen, von Mutter die grauen Augen. Die Schaukel im Garten gerät dazwischen. Ein kleiner Fuß schaut unter einer Decke hervor: von Marco, als er noch ein Kind war. Da ist die Bank im Türkenschanzpark. Und Jürgen? Warum dreht sich das Ringelspiel so schnell? Ich will wissen, ob es Jürgen war. Diese Hand mit der schönen Uhr und den Altersflecken ist mir vertraut, Omas Hand. Verdammt, wo ist Opa? Oma dreht die Handfläche nach oben. Das kann ich gerade noch sehen. Und Marco? Kleiner, großer Bruder, wo bist du? Dein Gesicht will ich sehen. Christoph drängt sich dazwischen. Nicht küssen! Das passt nicht dazu. Du verkennst den Ernst der Lage – wie immer. Meine Tränen wegküssen? Ich hab keine Tränen mehr. Süß traurig war ich dir, jetzt bin ich bitter. Und bald bin ich kalt. Bitterkalt dir. Nein, dir nicht, niemandem bin ich. Mir allein, bitterkalt.

Die Gesichter verwischen. Jigo noch; warum Jigo? Im klapprigen Bus. Am Markt von Marrakesch. Das ganze Gewühle verdämmert im Dunst und wir fliegen. Heim? Jigo?! Ich fliege, fliege allein. Es ist etwas passiert, etwas Schreckliches ist geschehen, etwas ist falsch gelaufen. Das Ringelspiel hat aufgehört, sich zu drehen. Das war nicht wirklich. Was ist wirklich? Bin ich wirklich? Bin ich? Es ist so still auf einmal. Sind die Turbinen ausgefallen? Dann stürzen wir ab! Doch nein. Wie leicht wäre der Tod im Mittelmeer. Jigo? Wir haben uns verpasst. Verspaßt. War leiwand alles. Der Spaß schmerzt noch immer. Hör auf damit. Ich muss dir etwas sagen. Etwas Wichtiges. Es war nur zum Schein alles. Ich wollte nicht mehr. Du musst das verstehen. Warum mich noch länger quälen? Hast du gedacht, dass ich lesbisch sei? Ich konnte nicht mehr, wollte den Erinnerungen an Körper nicht noch eine hinzufügen. Es war einfach kein Fleckchen mehr frei auf meiner Haut. Wie bitte? Was sagst du, Jigo? Es sind Geschenke, Liebesgeschenke? Du spaßest wieder. Leergeliebt bin ich.

Bin ich? Ich wollte doch nicht mehr sein. Das darf man nicht, haben alle gesagt. Natürlich darf man. Das ist die einzige Freiheit, die bleibt. Aber warum, zum Teufel, bin ich dann noch? Jigo! Hörst du mir noch zu? Deine Augen machen mir Angst. Deine treuherzigen Spaßaugen sind dunkel geworden. Alles in Ordnung bei dir? Ich hab dich verletzt? Ich hab mich verletzt. Zu Tode verletzt, aus den Augen gebracht. Glaubte ich. Etwas ist schrecklich schiefgelaufen. Ich dachte, ich springe ins Nichts. Warum blicken alle Augen, die abgewandt waren? Jetzt brauch ich euch nicht. Nicht diese weiten Pupillen, die Schreckgesichter. Nicht diese Tränen. Für mich? Ich bin nichts, nichts bin ich gewesen. Tränen um nichts? Auch du, Christoph Tränen? Wir waren doch nicht mehr zusammen. Eine andere war dir süß. Hab ich sie dir bitter gemacht? Bitter für lange Zeit? Das wollte ich nicht. Nicht für dich. So bitter wie ich kann niemand leben. Warum bittere ich noch? Wollte ich nicht ein Ende haben damit?

Jetzt bist du da, Opa. Ich hab dich doch so gesucht! Hat es dir die Stimme verschlagen, deine Bassgeigenstimme? Sie hat mich immer so eingelullt. Nie mehr mich in deine Arme kuscheln? Ich bin doch kein Kind mehr! Was bin ich? Hörst du mir überhaupt zu? Was brütest du trübselig vor dich hin? Warum hat die Oma nun ein Gesicht? Sie sieht mich nicht, nicht aus diesen verschwollenen Augen. Ich wollte doch nur eine Last von euch nehmen! Was drückt euch zu Boden? Ich bin doch nicht mehr! Mutti! Vati! Gebt Acht! Das ist ja ein ganzes Gebirge! Wie haltet ihr stand? Auf mir lag ein Kieselstein. Was hab ich euch aufgetürmt? Wo ist Marco? Wo ist Marco?! So kann er nicht leben! So helft ihm doch! Mein Gott, was hab ich getan?!

(C)Maria Harbich-Engels