Das Gesicht

Erhard setzte seine Füße Schritt für Schritt mit automatischer Achtsamkeit. Sein ovales glatt rasiertes Gesicht, geteilt durch eine lange, hohe Nase über einem schmalen Mund, ragte aus der Menge der Studenten heraus. Der Blick seiner grauen Augen war nach innen gekehrt. Dicke Lider bedeckten sie halb. Strähnen seiner braunen Haare, die sich aus dem Rossschwanz gelöst hatten, fielen darüber. Die Stufen, die Erhard herunterkam, waren nicht hoch und jede hatte eine vorspringende, abgerundete Vorderkante und war etwa eine Armlänge vom Handlauf entfernt deutlich ausgetreten. Er folgte gleichsam einer angedeuteten Rinne, auf der es ihn hinunter trieb und dann bis zum ständig auf und zu schwingenden Tor, durch dessen gläserne Vierecke der dicht strömende Verkehr auf der Ringstraße zu sehen war. Er mochte sie sonst nicht, diese grauen Stufen, die sich auch noch außerhalb des Universitätsgebäudes fortsetzten und in eine graue dröhnende Stadt voller Staub mündeten, aber heute dachte er: meergrau, meergraues Samtkostüm; Karens Hochzeitskostüm. Wie oft hatte sie es in den Koffer gepackt, in der Hoffnung, ihren Bräutigam jenseits der feindselig geschlossenen Grenzen Ungarns zu finden? Wie grau war das Meer in Norwegen? Und in Venedig? Welche Farbe hat dort das Meer für eine, die allein auf Hochzeitsreise geht? Erhard ließ seinen Rucksack von der Schulter gleiten und tastete nach Agnes Gergelys Roman. Das Buch war ihm wichtig, nicht nur, weil Ines es ihm geborgt hatte.
Er ging weiter ohne aufzuschauen; am Rathauspark vorbei; vor dem Parlament querte er die Straße; jemand hupte; ein Motorrad schoss knapp an ihm vorüber. Er war immer langsamer geworden und schlenderte jetzt auf dem breiten baumgesäumten Gehweg zwischen Volksgarten und Ring. Er verstand Carlos nicht. Wie konnte er Karen, die Frau seines Lebens verlassen?  Nur weil sie sein Kind nicht so liebte, wie er es sich erwartet hatte? Der ungarische Roman ging Erhard nicht aus dem Kopf. Er blickte auf den Steifen Gras, der sich schmal und dürftig zwischen zwei Alleebäumen erstreckte. Ein Schild steckte dort für Hundebesitzer. Zum Glück lagen dort keine Spuren einer Übertretung. Denn plötzlich überkam ihn so eine Müdigkeit, dass er sich, seinen Rucksack als Polster benützend, an den rissigen Stamm einer schlanken Linde lehnte. Er fiel nicht auf, denn ganz in der Nähe befand sich eine Straßenbahnstation, umlungert von Touristen, die sich ebenfalls, ermüdet durch die Hitze des Tages, auf die Grünstreifen zwischen den Bäumen niedergelassen hatten. Ihre Unterhaltung klang wie das auf und ab schwellende Plätschern eines Gebirgsbaches in seinem Ohr. Er hatte die Augen geschlossen, doch das helle Licht des Sommertages verschaffte sich Zutritt durch die Haut und Äderchen seiner Lider hindurch. Ab und zu traf diese ein Blitz aus einer spiegelnden Windschutzscheibe oder auch nur von einer Armbanduhr. Erhard nahm das alles immer undeutlicher wahr, auch das Brausen des Verkehrsstromes neben ihm, das ihm bald, gleich den Gesprächen der Fremden, wie Wasser erklang, nur ein mächtigeres, das unaufhörlich rauschte und strömte. Nicht lange und selbst das Rumpeln der Straßenbahn schreckte ihn nicht mehr auf.

‚Nur die ganz großen Wellen dröhnen so laut’, dachte er. Da müssen Höhlen aus den Uferfelsen ausgewaschen worden sein, in denen sich das Tosen zu einem Donnern vervielfacht. Dazwischen rauschte die Brandung in gleichmäßigen Stößen. Der Wind blies durch seine langen Haare und das Kind auf seinem Arm wimmerte. Es klammerte sich an seinen Hals, so fest, wie es selbst Kinder nur in äußerster Angst tun. Er aber schritt unbeirrt zum Wasser, den Blick auf den grauen Horizont geheftet. Das Kind erschauerte unter den ersten Spritzern der Gischt, die es trafen. Es wimmerte jetzt nicht mehr, aber seine Umklammerung wurde fester und fester; alle seine Muskeln waren auf das äußerste gespannt, sodass Erhard das Gefühl hatte, in einem riesigen Fangeisen zu stecken. Sein Wille bäumte sich dagegen auf. ‚Es engt mich ein, es macht mich verrückt. Was hat Ines sich eigentlich dabei gedacht, mir so eine Klammer umhängen zu wollen?’ Erhard vergaß für einen Augenblick den nassen Sand unter seinen Füßen, den Meeresschaum, der seine Zehen berührte. Ines. Das Wort genügte und er sah sie vor sich. Einen Kopf kleiner als er, zart, blond, mit einem vorsichtigen Lächeln und doch voll Sicherheit. Wo war sie jetzt bloß? Warum musste er das hier alleine bewältigen? Und danach mit salznasser Hose und triefender Jacke ins Auto steigen. Warum hatte er sein Gewand nicht ausgezogen? Des Kindes wegen hatte er es nicht getan. Er hatte Angst, es könne seine Absicht erkennen, obwohl es dazu noch viel zu klein war. Deshalb hatte er ihm auch nicht mehr ins Gesicht geschaut, schon als sie von zu Hause fortfuhren, hatte er ihm nicht mehr in die Augen geblickt. Nicht in diese großen Augen in dem winzigen Gesichtchen. Es waren die Augen von Ines. „Nein!“, schrie er in den Wind, der den Schrei sogleich davon trug. Nein! Es ist wie ein kleines Tier, eine kleine Katze, die man beseitigt, weil sie im Weg ist. Er spürte, wie Zorn in ihm hochstieg, siedend heiß stieg es in ihm hoch, und außen eiskalt. Er krallte seine Finger in das Kind, das wieder zu wimmern begann und wollte es von sich schleudern. Doch besann er sich und ging weiter vorwärts, immer tiefer in die Brandung hinein, die ihm fast das Gleichgewicht raubte. ‚Ines!’, bettelte er stumm. ‚Deine Augen werden bleiben. Nur so können sie für mich bleiben, was sie sind, wenn ich jetzt nicht aufhöre zu gehen.’
Erhard hatte seine schweren Lider tief heruntergezogen, um nichts zu sehen, um sich selbst nicht zu sehen, um die Gischt abzuwehren, die der Sturm ihm ins Gesicht blies.
Während ihm die Wellen schon fast bis auf die Brust schlugen, versuchte er sich einzureden, dass die Augen, die ihn so bedrängten, die Augen von Ines waren und von niemandem sonst. „Es kann noch nicht sehen, es ist noch viel zu klein!“ Er brüllte es und diesmal – vielleicht hatte der Schall einen Felsen getroffen – diesmal kehrte er zu ihm zurück: „Es kann noch nicht sehen, es ist noch viel zu klein!“ Er spürte den nassen Griff an seinem Hals, den eisernen kalten Griff und das kleine Köpfchen auf seiner Schulter. Und plötzlich hörte er wieder jenes donnernde Tosen, das er schon früher gehört hatte. Eine Riesenwelle brauste heran, bäumte sich auf an den Felsen, die draußen vor der Küste aufragten, spritzte hoch in den grauen Himmel, in den Sturm hinein, der die Gischt weit an Land trug, riss ihm die Beine unterm Körper weg und wirbelte ihn herum. Er sah nur Wasser, graues, von Blasen zerfetztes Wasser, wollte schreien, schmeckte das Salz, krümmte sich, weil die Lungen so brannten, öffnete wieder den Mund.

„Bist du jetzt ganz verrückt? Sitzt am Straßenrand, schlägst um dich und schreist herum.“ Die Stimme von Ines war so, wie Ines war: trotzdem höflich; und ruhig, obwohl sie ihn an den Schultern schüttelte. Erhard griff verwundert an seine Brust, tastete nach seinem Hals und schüttelte den Kopf. „Ich muss eingeschlafen sein.“ Ines hatte sich neben ihm niedergelassen und wartete. Er war sonst nicht um Worte verlegen, doch jetzt strich er sich schweigend durch die Haare als wollte er Wasser herausstreichen. Er schaute ihr nicht ins Gesicht, als er mehrmals ansetzte, etwas zu sagen. Sie erhob sich bereits, und er zog sie noch einmal herunter ins Gras. „Mir hat geträumt“, murmelte er. Sie kam ganz nahe an seinen Mund heran, um ihn zu verstehen; die vorbeifahrenden Autos dröhnten und neue Touristen unterhielten sich auf der Straßenbahnhaltestelle. Aber Erhard sprach nicht weiter. Ines betrachtete ihn prüfend aus den Augenwinkeln, während ihr sich deutlich rundender Körper schon von ihm wegstrebte. Er spürte die winzige Wegbewegung wie einen Messerstich. „Lass mir Zeit!“ Dieser Satz rief in ihm, prallte aber an ihrer Enttäuschung ab, bevor er ihn aussprach. „Gehen wir!“, sagte sie jetzt und er erhob sich unschlüssig.

© Maria Harbich-Engels