Leid und Liebe

Das Ehepaar N.N. ist türkischer Abstammung, aber beide sind schon hier geboren. Sie leben in einer kleinen Wohnung in Wien Floridsdorf.  In einfachen, aber glücklichen Verhältnissen.  Sie haben zwei Mädchen. Das Ältere wurde mit dem Down-Syndrom geboren. Die Mutter hat sie gerade am Arm, als sie mir sagt: „Sie wird immer mein Liebling sein!“

J.H. ist Bauer in Oberösterreich. Stefan, sein Zweitgeborener unter einer großen Kinderschar hat das Down-Syndrom. Am liebsten hilft er dem Vater in Haus und Hof. Dank der sorgsamen Erziehung der Eltern ist er schon recht geschickt. Er darf einen wichtigen Beitrag leisten für die Familie. Das gibt ihm Zufriedenheit. Als ich mit den Kindern spiele, fällt mir auf, wie rücksichtsvoll sie miteinander umgehen. So hat auch die Kleinste Spaß am schwierigen Spiel. Ganz selbstverständlich schließen sie den Schwächsten nicht aus.

Angela Winkler ist Schauspielerin. Ihre Tochter Nele Winkler spielt trotz Down-Syndroms in einer Theatergruppe. Ich erlebe die beiden im Niederösterreichischen Landestheater bei einer Lesung von Andersen-Märchen. Die unmittelbare Natürlichkeit des Mädchens gibt der Veranstaltung eine besondere künstlerische Dimension. Aus dem gut vorbereiteten Zusammenspiel kann man eine innige Beziehung zwischen Mutter und Tochter sehen, die sehr berührend ist.

Wie lange noch wird unsere Gesellschaft solche Lieblinge haben, werden Kinder Rücksicht lernen an sogenannten Benachteiligten, wird uns der künstlerische Charme einer unmittelbaren Kreativität erfrischen?

Oder werden wir, wie in dem preisgekrönten Buch von Lois Lowry, einen „Hüter der Erinnerung“ brauchen, wenn wir – um einen furchtbaren Preis – alles angebliche Leid aus unserer Gesellschaft verbannt haben? Einen „Hüter der Erinnerung“, der als Einziger Weisheit besitzt, weil er um Leid und Freude weiß.