Parkmanöver

Tante Lina ist 85 Jahr alt. Ihr gebeugter Rücken zwingt sie, den Kopf vorzustrecken, und ihr Gegenüber von schräg unten zu betrachten. Das tut sie, leicht schielend und äußerst ungeniert durch ihre modischen Brillengläser hindurch. Dabei steht die Haltung ihres zarten Körpers in krassem Gegensatz zu der Selbstsicherheit, die sie versprüht. Dieser Eindruck wird durch einen rosa Lippenstift und geradezu jugendliche Kleidung noch unterstrichen. Sie scheut sich nämlich nicht, ihre runzeligen Arme zwischen Spaghettiträgern hervorstehen zu lassen. Die Fingernägel sind, passend zur Kleidung, rosa lackiert. Trägt sie nicht gerade ein leuchtendes Rosa, dann ist es Lila, Gold oder Weiß. Der Rock endet über den spitzen Knien und die Schuhe sind farblich abgestimmt, aber nicht immer bequem: Allzu oft kann man ihre rosa lackierten Zehennägel bewundern wenn sie irgendein hochhackiges Modell ungeniert unter dem Tisch abstreift. Dennoch bemüht sie sich, als feine Dame zu gelten. Daher trägt sie ein rosa Seidenjäckchen, maßgeschneidert selbstverständlich, über ihrem Top. Und dieses Seidenjäckchen wurde eines Tages zum Gegenstand von einer Serie von Missverständnissen.

Obwohl Tante Lina in unmittelbarer Nähe ihrer Tochter und deren Familie wohnt, legt sie größten Wert auf Unabhängigkeit und macht sich alle Besorgungen selbst. Dazu fährt sie schon seit Jahren ein kleines rotes Auto. Leider sieht man diesem Gefährt die Schusseligkeit der Besitzerin an. An allen möglichen und unmöglichen Stellen hat es kleine Dellen und Kratzer, die Tante Lina jeweils gleich am Tatort mit Nagellack behandelt. Und da dieser, wie wir schon wissen, rosa ist, fällt das Auto mit den Sommersprossen unter hunderten sofort auf. Das machte es ihren Freunden und Verwandten leicht, Tante Lina zu identifizieren, als in ihrem Heimatstädtchen folgende Geschichte die Runde machte. – Wer allerdings das Verwirrspiel beobachtet hat, mitleidlos und ohne der alten Dame beizustehen, konnte nie geklärt werden. Hat sie vielleicht selbst die Geschichte in Umlauf gebracht? Möglich wäre es.

Es war an einem jener kühleren Tage, wie sie Ende August häufig sind. Kein Windhauch bewegte die Blätter der großen Linden, die ihre langen Schatten auf den Parkplatz vor dem alten Schloss warfen. Die Luft war trocken und das breite Flusstal, an dessen steil ansteigenden, von Weingärten durchzogenen Hängen das Schloss thronte, stand in klaren, leuchtenden und jetzt von der Abendsonne mit Gold übergossenen Farben. In der Ferne glitzerte ein kurzer Abschnitt des Stromes, über dem dunkel und ernst der Wald empor stieg. Obwohl Tante Lina in Eile war, genoss sie diesen Anblick, während sie mit leicht überhöhter Geschwindigkeit in den Parkplatz einfuhr. Sie fand alles belegt. Das hätte sie sich denken können. Das Barockensemble, das heute spielte, war weithin bekannt. Außerdem stammte die Flötistin aus der Gegend. Besonders ihretwegen wollte Tante Lina das Konzert nicht versäumen. Sie summte eine Melodie, die ihr vom letzten Konzert noch in Erinnerung geblieben war und stellte sich vor, wie diese Frau selbst zum Teil ihres Instrumentes geworden war und Töne schuf, die im eigenen Körper Nachklang fanden.

„Hoffentlich bekomme ich überhaupt noch eine Karte!“, dachte sie und parkte ihr sommersprossiges Auto neben einer uralten Linde. Sie merkte wohl, dass sie einen weißen Audi einsperrte, hoffte aber, der dazugehörige Fahrer würde nicht vor Ende des Konzertes wegfahren wollen. Schnell, das glitzernde Täschchen unter den Arm geklemmt, sperrte sie das Auto zu und stürmte los. Ach bergauf, und diese Stöckelschuhe! Keuchend war Tante Lina am oberen Rand des Parkplatzes angelangt, als sich dort ein silberner Kombi langsam aus einer Parklücke schob. Das war die Gelegenheit! Jetzt sollte sie an zwei Stellen gleichzeitig sein können. Kurz entschlossen streifte sie ihr rosa Seidenjäckchen ab, breitete es in die inzwischen frei gewordene Lücke und hastete zurück zu ihrem Auto. Sie startete gerade, als sie einen Herrn im schwarzen Anzug mit ihrer Jacke vorbeilaufen sah. „Halt!“, schrie sie und stürzte aus dem Auto ihm nach, der wiederum den silbernen Kombi verfolgte, in dem er offensichtlich die Jackenbesitzerin vermutete. „Meine Jacke, entschuldigen Sie, das ist meine Jacke!“ – „Oh, und ich dachte, die Herrschaften hätten sie verloren.“ Tante Lina ließ sich auf keine langen Diskussionen ein und rannte mit ihrer Jacke wieder bergauf. „Hoffentlich ist der Platz noch frei.“, murmelte sie zwischen stoßweise hervorbrechenden Atemzügen. „Ja, Glück gehabt.“, meinte sie befriedigt und breitete ihr Jäckchen ein zweites Mal auf den Boden.

Der Herr im schwarzen Anzug muss ein Fremder gewesen sein, denn in diesem Ort hier hätte sicher jeder an dem auffälligen Kleidungsstück die Besitzerin erkannt. Es war also durchaus kein hoffnungsloses Unterfangen, dass Tante Lina ihr Besetzungsmanöver noch einmal versuchte. Das schlimmste, das ihr passieren konnte war, dass ihr jemand die Jacke heute oder morgen nach Hause brachte.

Bevor sie zu ihrem Auto lief, stellte sie sich auf die Zehenspitzen und blickte in die Runde. Kein Mensch war zu sehen. Hoffentlich begann das Konzert nicht pünktlich, denn die akademische Viertelstunde hatte bereits begonnen. Tante Lina fand ihre Autotüre offen – in der Aufregung hatte sie vergessen, sie wenigstens zuzuschlagen – und kletterte in den Wagen. Zumachen brauchte sie denselben nicht, denn wie von Geisterhand wiederholte sich die Szene von vorhin: Ein schwarzbefrackter Herr lief, das leuchtend rosa Jäckchen wie eine Fahne über seinem Kopf schwingend, an ihr vorüber zur Ausfahrt des Parkplatzes, den ein kleines grünes Auto eben verließ. „Warten Sie!“, schrie er, „Ihre Jacke, Sie haben Ihre Jacke verloren!“  Zu Tante Linas Glück fuhr das grüne Auto davon und der Herr stand noch ratlos und keuchend da, als die flinke alte Dame ihm wortlos die Jacke entriss und sich mit ihr ins Auto setzte. Als sie bei der vordem freien Parklücke ankam, war diese besetzt. Aus einem unscheinbaren Kleinwagen stieg – Tante Lina, die ihren Unmut nicht mehr an sich halten konnte, und der schon ein ungeduldiges Wort auf den Lippen lag, verschlug es die Rede – die Flötistin. Die alte Dame sprang behände aus ihrem Fahrzeug und stürzte zu der verehrten Künstlerin. Mit verzweifeltem Flehen in der Stimme hielt sie ihr die Seidenjacke hin und bat sie inständig, ihr einen Platz im Konzertsaal zu reservieren, weil sie doch so eine Verehrerin von ihr sei. Die Flötistin, selbst unter äußerstem Zeitdruck stehend, nahm wortlos die Jacke, verneigte sich lächelnd und verschwand im Künstlereingang.

So kam es, dass Tante Lina, nachdem sie sich zum zweiten Mal neben der alten Linde und vor dem weißen Audi eingeparkt hatte, wenige Minuten nach Beginn des Konzertes in den Saal trat, siegessicher nach allen Seiten hin lächelnd auf den Zehenspitzen nach vorne trippelte, bis zu jenem Ehrenplatz, der durch ein leuchtend rosa Seidenjäckchen gekennzeichnet war.

© Maria Harbich-Engels