Talschluss

Schon lange hatte ich dieses Dröhnen gehört ganz in der Ferne und nur bei günstigem Wind. Ich hielt es für Donner. Später, als es immer anhielt, ja sogar fast unmerklich anschwoll, wurde mir klar, dass es kein Gewitter sein konnte. Und endlich gewöhnte ich mich an den Laut und achtete nicht mehr darauf.

Mein Haus war das letzte im Tal, aber das wussten die wenigsten. Wenn man durch das Dorf ging, hatte man vielmehr den Eindruck, als wäre es bloß eines der lose um die Kirche herum gestreuten Gehöfte. Man sagt heute noch Gehöfte, obwohl nur mehr zwei Familien Rinder im Stall stehen haben, einen eingezäunten Gemüsegarten und herumlaufendes Federvieh. Alle übrigen arbeiten auswärts und müssen dafür täglich weite Strecken zurücklegen. Davon bin ich zum Glück verschont. Ich bin Schriftsteller und arbeite zu Hause. Außerdem habe ich versucht, mir ein wenig vom landwirtschaftlichen Flair zu erhalten, mit einer Ziege, ein paar Hühnern und einem kleinen Glashaus. Genau genommen bin ich angewiesen auf diese Dinge, denn meine Arbeit wirft nur sehr spärlichen Lohn ab, aber vor mir und vor den Leuten im Dorf stelle ich sie als Liebhaberei hin.

Ich erinnere mich genau an den Tag, als mir zum ersten Mal klar wurde, dass mir etwas Einschneidendes bevorstand. Ich hatte mir eigens ein paar Stunden frei genommen, um herauszufinden, woher die dröhnenden, mitunter metallisch quietschenden Geräusche kamen. Nach einer, trotz wachsender Beunruhigung, erquickenden Wanderung durch junge Wiesen, auf denen die ersten Blumen ihre Knospen öffneten, fand ich einen senkrechten Spalt in der steilen Felswand genau auf der Höhe meines Hauses, aus dem unendlich langsam eine riesige eiserne Platte hervordrang. Sie war rostbraun, als wäre sie schon lange dem Regen ausgesetzt, aber sehr massiv und fuhr auf eisernen Rollen in einer Schiene tief in der Erde, die gleichzeitig mit dem Vordringen der Platte beständig wuchs. Ich betrachtete den Schlitz im Boden mit dem Stück Schiene, das der Platte voraus kroch. Von hier her kam dieses Grollen, die Rollen erzeugten es, während sie sich bewegten, denn die Platten mussten viele Tonnen wiegen. Am gegenüber liegenden Hang befand sich das Gegenstück dazu. Ich sah es vom Dachbodenfenster aus, von wo ich jetzt täglich mit dem Fernglas das langsame Näherkommen der Metallplatten beobachtete. Ich nannte sie „das Tor“, denn schon damals ahnte ich, was kommen würde.

Damit stand ich aber offensichtlich ganz alleine da, denn im kleinen dörflichen Selbstbedienungsladen sprach kein Mensch darüber. Man wechselte wie üblich ein paar Worte über das Wetter, einen Todesfall oder ein Sportereignis. Dabei war das Dröhnen inzwischen so laut geworden, dass man mit erhobener Stimme reden musste, wenn man verstanden werden wollte. Ich getraute mich nicht, jemanden darauf anzusprechen. Ich hatte das Tor beobachtet, über seine rostige Oberfläche gestrichen, ich wusste, dass seine beiden Flügel einander täglich ein Stück näher kamen und dass sie sich genau zwischen meinem Haus und dem Dorf treffen würden. Oder waren das Trugbilder? Hatte ich den Verstand verloren? In Momenten großer Müdigkeit wusste ich auf diese Fragen keine sichere Antwort.

Eines Tages, als ich wieder auf meinem Beobachtungsposten am Dachboden saß, beschloss ich, nicht mehr hilflos auf die heran kriechenden eisernen Torflügel zu starren, sondern stattdessen auf das Dorf zu schauen, das mir jetzt so lieblich erschien mit seinen Obstbäumen und dem kleinen Teich neben der aus dem Boden sprudelnden Karstquelle. Danach betrachtete ich den schmalen Wasserfall, der über den Steilhang springt und sich jenseits des Dorfes mit dem Bächlein vereinigt, das aus dem Dorfteich rinnt. An klaren Tagen konnte ich das glitzernde Band bis weit ins Land hinein verfolgen. An seinen Ufern reihten sich die Dörfer wie Perlen auf. Das Tal wurde weiter, lichter, die Berghänge links und rechts grüner und ganz in der Ferne schimmerte der Strom im Abendlicht, in den unser Bächlein mündet und der aus dem Bergland hinaus fließt, durch lieblichere und fruchtbarere Gegenden strömt, und schließlich die große Ebene durchschneidet mit seinen wogenden Getreidefeldern, mit den riesigen Städten, die mir jedoch weniger verlockend erschienen als das weit verästelte Mündungsdelta mit seinen Millionen Vögeln und das Meer dahinter. Es tat mir jetzt leid, dass ich mich nie auf die Reise dorthin gemacht hatte. Ich wäre so gerne einmal am Strand gestanden und hätte die Möwen schreien gehört und die Wellen rauschen.

Genau sieben Monate, nachdem ich die Torflügel zum ersten Mal gesehen hatte, schlossen sie sich. Ich stand dabei und schaute ein letztes Mal durch den Spalt. Meine zwei Nachbarinnen unterhielten sich gerade über die Dorfstraße hinweg. Ich konnte nicht hören, was sie sagten, da ein dumpfes Grollen alles übertönte, aber ich sah sie über irgendetwas lachen. Dann krachten die metallenen Flügel aneinander. Nicht eine noch so schmale Ritze blieb frei. Das Tor war geschlossen und trennte mich vom Rest der Welt.

Langsam wandte ich mich um und staunte. Es war ganz still, zum ersten Mal seit Monaten. Ich hörte den Bussard schreien, der über meinem Haus seine Kreise zog und die Ziege leise meckern, die unterm Apfelbaum das Gras rupfte. Die Schneefelder hoch oben schimmerten in frischem Weiß und die Lärchen an den Hängen leuchteten gelb. War ich etwa deshalb hier geblieben? Ich wollte doch so gerne das Meer sehen.

Da bereits der Bergschatten über dem Haus lag und es empfindlich kühl geworden war, führte ich die Ziege in den Stall, schloss die Fenster des Glashauses und trat in den dunklen Flur. Ich sah dich erst, nachdem sich meine Augen an das Dunkel gewöhnt hatten: die schmalen hellen Hände und dann das Oval deines so lange vermissten Gesichtes. Weil ich glaubte, auch du hättest das Tor nicht gesehen, hab ich dich angebrüllt. Es war nur deinetwegen; meinetwegen war ich sehr froh, dass du gekommen bist.

Jetzt sehne ich mich nicht mehr danach, das Meer zu sehen. Es ist mir nicht mehr so wichtig.

(c)Maria Harbich-Engels