Ausgetrocknet

Trübrot versinkt die Sonne im hochsommerlichen Dunst, der über der Großstadt brütet. Vom Feld ihrer Schwester aus sieht Anja nur die bizarren Spitzen der Hochhäuser. Hinterm Donauturm liegt ihre Wohnung. Anja denkt an den Abschiedsbrief, der dort auf dem Tisch liegt. Wie eine Lanze kommt er ihr vor, der Donauturm. Anja schaut nicht mehr hin. Sie muss Manuela helfen, die Bewässerung in Gang zu bringen. Dabei geht sie das Blechrohr entlang und kontrolliert die Schläuche, die davon abzweigen und zu den Regnern führen. Die Erde unter ihren bloßen Füßen ist steinhart und rissig. Auf den Karottendämmen hat sich eine dicke Kruste gebildet, durch welche die winzigen Pflanzen durchzubrechen versuchen. Anja hockt sich nieder und streicht mit den Fingern über die kleinen Keimblätter. Sie strecken erst ihre Spitzen heraus und krümmen sich vor Anstrengung. Von den eigentlichen Karottenblättern, die so hübsch gefiedert sind, ist noch nichts zu sehen. Anja spürt ihre Sehnsucht, sich zu entfalten, beinahe körperlich, leidet mit ihnen in der trockenen Erde. „Ich will nicht länger feststecken wie ihr!“, sagt sie in die einbrechende Dunkelheit hinein. „Ich kann nicht mehr. Wenn ich bei ihm bleibe, geh ich zugrunde.“ Ein Weinen würgt ihr in der Kehle. Sie versucht, es wegzuhusten. Hat sie sich den Schritt nicht reiflich überlegt? Wie oft hat sie Paul gebeten, nicht so viele Überstunden zu machen. Sie ist es satt, ihn nur nachts zu sehen. Nicht einmal im Bett ist er bei der Sache, geschweige denn wirklich bei ihr. Wieder steigt dieses grässliche Weinen in ihr hoch. „Ich bin doch keine Hure, verdammt noch einmal!“, schluchzt sie. „Er berührt mich nur zum Sex.“ Anja presst die Lippen zusammen. Sie ist böse auf sich, dass sie sich wieder vom Schmerz hat hinreißen lassen. „Schluss, aus!“, schimpft sie und ist froh, dass jetzt ein Zischen in der Blechrohrleitung zu hören ist. Ihre Schwester hat die Pumpe hochgefahren. Anja sieht sie in der Ferne am Schaltkasten hantieren. Den ganzen Nachmittag lang hat sie Manuela von ihrem Kummer erzählt und sie gebeten, eine Weile bei ihr wohnen zu dürfen. Jetzt ist die stechende Hitze des Tages einer lauen Nacht gewichen. Über den schwarzen Nordhimmel huscht lautlos ein Wetterleuchten. In dem gespenstisch blinkenden Licht sieht Anja, wie ein Regner nach dem anderen zu sprühen beginnt. Unvermutet steigt eine Fontäne aus einem schadhaften Schlauch. Mit Messer und Schraubenzieher müht sie sich ab, ihn zu reparieren. Dabei verletzt sie sich auf der linken Hand. Als sie das Blut abschleckt, bekommt sie Sand zwischen die Zähne. Spuckend schließt sie endlich den reparierten Schlauch wieder an die Hauptleitung an. Er füllt sich mit Wasser und der Regner beginnt sich klickend im Kreis zu drehen. In der Finsternis sieht sie den Strahl nicht näherkommen. Sie quietscht, als sie vom kalten Wasser getroffen wird. Der Schreck treibt ihr wieder Tränen in die Augen. Wie lange ist es her, dass sie und Paul sich eng aneinandergekuschelt Geschichten erzählt haben, ihre Erlebnisse vom Tag? Ach, wie sie seine warmen Hände vermisst! „Alles hast du kaputtgemacht!“, schreit sie in die Nacht hinaus. Und weiter geht es auf der Suche nach Rissen in den Schläuchen, das Rohr entlang. Von einem Regner nach dem anderen wird sie besprüht. In regelmäßigen Abständen klatschen dicke kalte Tropfen auf ihre Haut. „Du bist gemein!“, heult sie, „gemein, gemein“. Dann schlägt sie sich auf den Mund. Manuela soll nicht glauben, sie sei verrückt geworden. Wo ist ihre Schwester überhaupt? Sie ist mit ihrem Kontrollgang schon fertig und wartet am Ende des Ackers beim Pritschenwagen. Ein zweites Auto ist dort stehen geblieben. Jemand unterhält sich mit Manuela. Anscheinend sind noch andere Bauern auf ihren Feldern mit der Bewässerung beschäftigt. Anja ist noch zu weit weg, um etwas von der Unterhaltung zu hören. Sie plagt sich gerade mit einem verwickelten Schlauch, als sie hinter sich jemanden rufen hört. „Anja.“ Erschrocken fährt sie herum und sieht in der Dunkelheit eine Gestalt auf sich zukommen. Augenblicklich weiß sie, wer es ist, aber sie gesteht es sich selbst nicht ein. Eigensinnig zerrt sie an dem schweren Schlauchknäuel herum, bis Paul direkt vor ihr steht. „Anja“, sagt er, „komm wieder heim.“ – „Niemals!“, bricht es aus ihr heraus, mehr nicht, denn wieder kommen die verdammten Tränen. – „Ich hab gekündigt. Bitte komm wieder heim.“ Anja richtet sich auf und starrt ihren Mann ungläubig an. „Du hast gekündigt? Heute?“ – „In dieser Firma läuft nichts ohne Überstunden.“ – „Und was wirst du jetzt machen?“ – „Eine andere Arbeit suchen; Hauptsache, du kommst wieder heim.“ – „Ich hab geglaubt, du hängst so an deinem Beruf?“ Anja bückt sich wieder und entfernt den letzten Knick aus dem Schlauch. Der angeschlossene Regner beginnt die beiden zu besprengen. Paul kümmert sich nicht darum. „Ich war so unter Druck und dachte, ich müsste immer mehr leisten und immer mehr. Erst als du weg warst, ist mir bewusst geworden, wie sehr ich dich vernachlässigt habe. Verzeih mir, bitte.“ Vorsichtig berührt er seine Frau an der Schulter. „Anja, du bist mir wichtiger als alles.“ Sie streckt unschlüssig die Hand aus. Soll sie noch einmal umkehren? Zweifel und Sehnsucht zerren sie in verschiedene Richtungen. In diesem Augenblick tritt der Mond hinter einer Wolke hervor und beleuchtet das Feld. Anja sieht den bewässerten Streifen dunkel werden. Der Boden unter ihren Füßen fühlt sich kühl an und weich. Sie denkt an die kleinen Pflanzen, die jetzt beginnen, die Feuchtigkeit aufzusaugen. Diese Vorstellung geht wie eine Erleichterung durch ihren Körper. Und dann endlich weint sie an Pauls Schulter. Sein Hemd bekommt erdige Abdrücke und in seine Schuhe sickert langsam das Wasser. Die Lichter von Wien blinken herüber. „Schau, der Donauturm“, flüstert Paul und streicht seiner Frau über Wange und Kinn, „rechts dahinter sind wir zuhause.“ – „Wie eine Lanze hat er ausgesehen“, murmelt Anja. „Halt mich fest, Paul.“

(c)Maria Harbich-Engels