Beim Fleisch Zerlegen

Ich hatte nie gedacht, dass mir diese Arbeit einmal Spaß machen würde. Das rohe Fleisch eines unserer Ochsen lag in appetitlichen Stücken auf dem großen Arbeitstisch. Mein Sohn und mein Mann machten Portionen daraus, die meine Schwiegertochter in Folie verpackte. Ich selbst erhielt die Abschnitte, die ich fein säuberlich von Fett und Sehnen befreite, damit sie faschiert werden konnten. Die Handgriffe waren gut eingespielt, so lief alles ruhig und zügig ab. Als die Stimme meines Enkelkindes aus dem Babyphon ertönte, bat mich die Schwiegertochter, eine Weile ihre Arbeit zu übernehmen. Dann holte sie die Kleine aus dem Auto, in dem sie auf der Herfahrt eingeschlafen war. Alle freuten sich, als sie hereingetragen wurde. Sie erwiderte unsere Begrüßung mit einem unausgeschlafenen Lächeln und beschäftigte sich dann in ihrem Hochstuhl mit dem Ausräumen einer alten Geldbörse. Dabei stieß sie drollige Laute aus, die von uns imitiert wurden. So flogen die lustigsten Töne durch den Raum, während die Arbeit gleichmäßig weiterlief. „Bist du schon fertig mit dem Gulasch? Kannst du bitte noch den Lungenbraten zuputzen?“ Mein Mann nahm die beiden feinsten Stücke des Rindes in Empfang und ließ dabei die Zunge in seinem Mund blubbern. Die Kleine, die mit ihm auf Augenhöhe saß, da er im Rollstuhl kleiner war als wir im Stehen Arbeitenden, blubberte zurück und quietschte dazwischen vor Vergnügen. „Vergiss nicht den Tafelspitz für Herrn Dreier!“ Die spitzen Schreie der Kleinen wurden ungeduldig. Während ich das  inzwischen Faschierte einwog, sang ich „Alle Vöglein sind schon da…“ und „An meiner Ziege hab ich Freude…“ und „Spannenlanger Hansel“. Aufhören durfte ich nicht, also sang ich so lange, bis mein Sohn mit dem Portionieren fertig war. Als er auf seine kleine Tochter zukam, streckte sie ihm schon glücklich die Ärmchen entgegen und rief: „Da! Da!“  Er schnitt ihr Grimassen und nahm sie an die Hüfte, von wo sie dann stolz in die Runde blickte, bevor sie, an ihren großen schlanken Vater geklammert, in den Jausenraum schwankte, wo sie den Mittagsbrei bekam.

Nachdem ich das Faschierte ausgewogen hatte, war auch für mich Jausenzeit gekommen, die ich draußen in der warmen Frühlingssonne verbringen wollte. So legte ich die Arbeitskleidung ab und ging mit Wurstbrot und Apfel auf die Wiese hinaus, die vor den Fenstern des Verarbeitungsraumes lag. Dort wanderte ich kauend auf und ab, spürte die Sonnenstrahlen durch den Pullover dringen und hörte von drinnen das zufriedene Plappern der inzwischen gesättigten Kleinen. Ich winkte ihr von außen zu, aber sie sah mich nicht. Plötzlich konnte ich sie auch nicht mehr hören. War ein Fenster geschlossen worden? Ich schaute die Fensterzeile entlang und erinnerte mich, dass auch vorher kein Fenster offen war und trotzdem Laute durchgedrungen waren. Ich winkte noch heftiger, jetzt mit beiden Armen, aber keiner nahm mich wahr. Die Arbeit ging ruhig weiter. Die Schwiegertochter hatte begonnen, Pakete zusammenzustellen und gab ihrem Mann Anweisungen für die Erfüllung von Sonderwünschen einiger Kunden. Ich wusste es, da sie immer wieder auf die Bestellliste schaute, aber ich hörte nichts. Verwirrt fuhr ich mit den Fingern in meine Ohren. Da dröhnte auf der Straße ein Traktor vorbei. An meinen Ohren konnte es also nicht liegen. Ich hörte auch, wie ich an die Scheibe klopfte, aber keiner drinnen hob den Kopf. Mein Mann hatte jetzt die Kleine auf dem Schoß und fuhr mit ihr hinten hinaus in den Jausenraum. Es war höchste Zeit, dass ich wieder zu arbeiten anfing. Meine Aufgabe war es, die Gustostücke auf Tassen zu legen und mit Folie zu verpacken. Ich wollte zur Tür gehen, durch die ich herausgekommen war, fand sie aber nicht mehr. Die Fensterreihe war da, aber keine Tür. In wilder Angst suchte ich die Wand mit den Augen ab. Da waren nur die großen aluminiumgerahmten Fenster, eines neben dem anderen. Keine Mauer darunter, kein Dach darüber, nur die Fensterzeile, die wie an unsichtbaren Fäden in der Luft hing. Ich blickte wieder durch das staubige Glas und sah meine Kinder ruhig arbeiten, als ginge ich ihnen gar nicht ab. „Hallo! Wartet, ich helfe euch schon!“, rief ich. Ich schrie es und ein vorbeigehender Mann schaute mich verwundert an. ‚Irgendetwas stimmt hier nicht“, dachte ich verzweifelt, getraute mich aber nicht mehr zu rufen. Ich tastete mit bebender Hand die Fensterreihe entlang, sah drinnen meine Familie, tastete bis zum Ende und fand heraus, dass nichts dahinter lag. Da war niemand, auch kein Arbeitsraum, nur welkes vorjähriges Gras. Ich ließ mich hineinfallen und schlug mich an einem spitzen Stein auf. Während ich zusah, wie einige Blutstropfen von meiner Hand auf die trockene Erde fielen, hielt ich mir mit der anderen Hand den Mund zu. Denn der Schrei aus meinem Inneren durfte nicht in die Stille gelangen, die mich umgab, nicht in diese tiefe, lauschende Stille.

(c)Maria Harbich-Engels