Das verbrannte Christkind

Es geschah zu Weihnachten 2004. Für manche mag das Ereignis unbedeutend erscheinen, aber Claudia bezeichnete es später als einen Wendepunkt in ihrem Leben. Sie arbeitete damals in einer wissenschaftlichen Bibliothek. Klein, zart, aschblond und grauäugig führte sie ein unscheinbares Leben zwischen den Bücherreihen. Sie war so schüchtern, dass man sich wunderte, wenn man erfuhr, dass sie verheiratet war. Ihr Mann hieß Albert. Später ist sie mehr und mehr aus sich herausgegangen und da hat sie mir dann einmal von jenem Ereignis erzählt.

Als sie sich an jenem Weihnachtsabend über das schlafende Gesicht von Albert beugte, seufzte sie. Sie fuhr mit der Fingerspitze zärtlich über seine blonden Augenbrauen, über die blassen Sommersprossen auf der Nase und über seine schmalen Lippen, die sie vor einer Stunde liebevoll geküsst hatten. „Frohe Weihnachten!“, hatte er sie angestrahlt und sie überrascht mit dem flauschigen schwarzen Pullover, der ihr so wunderbar passte. Gemeinsam hatten sie das festliche Abendessen zubereitet. Alles war gut gelungen. Sogar der Tischschmuck, der ihr ein wenig Sorge gemacht hatte, war genau richtig gewesen. Ein paar Zweige, kunstvoll verziert, Servietten und Kerzen: einfach stimmungsvoll.

Während sie so sein schlafendes Gesicht betrachtete und den Abend in Gedanken vorüberziehen ließ, entdeckte sie plötzlich in ihrem Inneren einen Winkel, der ohne Weihnachtsglück geblieben war. Wie Luft aus einem muffigen Zimmer strömte ihr Traurigkeit entgegen. Sie schnupperte dran, und fühlte etwas Düsteres, das den festlichen Glanz minderte. Verwirrt fuhr sie sich mit dem Handrücken über die Augen, als könnte sie das innere Bild damit wegwischen. Dann nahm sie die Keksdose und setzte sich vor den Fernsehapparat. Ohne den Film richtig wahrzunehmen zeichnete sie gedankenverloren auf  die Rückseite eines liegengebliebenen Weihnachtspapiers. Die skurrilen Gebilde, die dabei entstanden, gefielen ihr nicht. Sie knüllte das Papier zusammen und warf es in den Papierkorb. Ihr Blick fiel auf den Mantel, der noch im Vorzimmer hing. Rasch zog sie ihn an und schlüpfte leise aus der Wohnung. Im Treppenhaus begegnete sie niemandem, aber von überall her hörte sie gedämpfte Stimmen, Musik, Gelächter. Sie knöpfte ihren Mantel zu und trat sie ins Freie. Es war frostig. Sie bereute, ihre schwarze Mütze nicht mitgenommen zu haben. Der Weg zum Marchfeldkanal war nicht weit. Dort führte ein beleuchteter Pfad am Ufer entlang. Die Lampen spiegelten sich im träge dahinziehenden Wasser. An den Rändern hatte sich Eis gebildet, Schnee lag auf allen Zweigen. Ein paar Enten hockten schlafend im Gebüsch einer kleinen Insel. Rasch ging Claudia unter der Brücke hindurch. Die Dunkelheit dort machte ihr Angst. Dahinter wurde es einsamer. Häuser und Lichter blieben zurück. Nur der Schnee leuchtete sanft. Sie wurde ruhiger, begann die Stille zu genießen. Da hörte sie plötzlich scharfes Geflüster, Zweige knackten, eilige Schritte entfernten sich. Einen Steinwurf vom Weg entfernt, in einer geschützten Mulde, gloste ein kleines Feuer. Sie fror mittlerweile so erbärmlich, dass sie unwillkürlich näher trat. Die Hände über der Glut, spähte sie ängstlich in die Runde. Keine Menschenseele war zu sehen und abgesehen vom fernen Verkehrslärm war es totenstill. Da sah sie auf einmal inmitten der rauchenden Zweige eine angekohlte Gestalt liegen. Erschrocken berührte sie mit ihren Fingern das Schnitzwerk. Es war ein Jesuskind, fast so groß wie ein lebender Säugling. Sein Gesicht war rußgeschwärzt, eines der Ärmchen war bereits verbrannt, das andere streckte sich ihr glühend entgegen. Vorsichtig nahm sie die Figur aus der Asche und dämpfte die Glut im Schnee aus.

Schon lange hatte für Claudia Weihnachten keine religiöse Bedeutung mehr, aber dieses geschundene, versengte Jesuskind rührte sie seltsam an. Eine Welle an Zärtlichkeit stieg in ihr hoch, ja ein geheimnisvoller Trost erfüllte sie mit einem Mal.

Sie war so in Gedanken versunken, dass sie die heranschleichenden Jugendlichen zu spät bemerkte. „Lass die Finger davon!“, knurrte einer mit einer Totenkopfkappe und versetzte ihr einen heftigen Stoß auf die Schulter. Sie taumelte, ließ aber das Jesuskind nicht los. Ein stark geschminktes Mädchen mit langen platinblonden Haaren versuchte, es ihr zu entreißen. Zwei weitere schmale Gestalten schoben sich aus dem verschneiten Gebüsch. Einen Augenblick noch hielt Claudia still, dann rannte sie unvermittelt los, das Jesuskind fest an sich gepresst. Zum Glück war sie eine gute Läuferin. Bald hörte sie nur mehr ihre eigenen eiligen Schritte und ihren keuchenden Atem. Sie lief unter der dunklen Brücke hindurch und verminderte das Tempo. Ein Blick zurück überzeugte sie davon, dass die Jugendlichen ihr nicht gefolgt waren. Trotzdem hastete sie weiter, über den Skaterplatz und an der modernen Kirche vorbei. Durch die schmalen, bis auf den Boden reichenden Fenster konnte sie den leeren Kirchenraum sehen. Er war schwach erleuchtet. Sie lief zum Tor und fand es offen. Angenehme Wärme strömte ihr entgegen. Auf den Kirchenbänken lagen noch die Liedertexte von der Christmette ungeordnet umher. Vorne flackerten zwei Kerzen im Luftzug und lenkten ihren Blick auf eine leere Futterkrippe. Sie schwankte. Dann begann sie zögernd mitten durch den Kirchenraum nach vorne zu gehen. Immer rascher ging sie, immer sicherer wurde ihr Schritt, bis sie das versengte Kind behutsam in sein Bett zurücklegte. Es lächelte, das sah Claudia trotz der Zerstörung, und streckte ihr das eine angekohlte Ärmchen entgegen. ‚Als würde es winken’, dachte sie im Hinausgehen.

Während sie zu Hause mit Bürste und Seife den Ruß von den Fingern schrubbte, fiel ihr der öde Winkel in ihrem Herzen wieder ein. Er war nicht mehr öd. Der sanfte Trost, den sie draußen an der Feuerstelle verspürt hatte, erfüllte ihn mit Wärme.

Als sie sich dann über das schlafende Gesicht von Albert beugte, war die winzige unerklärliche Enttäuschung von vorhin verschwunden und die Zärtlichkeit, mit der sie über seine Lippen strich, war durchflutet von etwas, was sie nicht in Worte fassen konnte.

Etwas aus Licht und Honigsüße,

leicht und dicht.

 

 

(c)Maria Harbich-Engels