Der heimliche Wohltäter

Es war Nacht. Kalter Wind fegte durch die Gassen von Myra, schlug einen Fensterladen quietschend auf und zu und bauschte im dunklen Winkel einen Mantel. Ein feiner Mantel war das, aber der Mann, den er verbarg, schaute herabgekommen aus. Schwarze Haare hingen strähnig in sein aufgedunsenes Gesicht und dunkle Augen spähten unstet in die Nacht hinaus. Er wartete, doch nichts rührte sich. Nichts, was die inneren Bilder verdrängen konnte. Das hübsche Gesicht seiner Frau, blass, fast durchscheinend, mit großen Augen, die deutlicher sprachen als ihr Mund: „Sorge Dich um die Mädchen! Sie sollen einen guten Mann bekommen!“ Sie wartete auf sein Versprechen, dann verschied sie. Hatte sie geahnt, dass er Schwierigkeiten bekommen würde? Kurz hintereinander verlor er zwei Handelsschiffe, dann kam das Erdbeben. Der kümmerliche Rest seines Vermögens war bald aufgezehrt und der reiche Kaufmann von einst wusste nicht, wo er das tägliche Brot hernehmen sollte. Am meisten bedrückte ihn, dass die Geldverleiher immer unverschämter wurden. Sie drohten, ihn ins Gefängnis werfen zu lassen, wenn er seine Schulden nicht zurückzahlte. In seiner Not beschloss er, die Töchter an ein Bordell zu verkaufen. Er sah keinen anderen Ausweg. Aber der Gedanke daran war ihm so schrecklich, dass er zu trinken begann.

Vorgestern Nacht jedoch passierte etwas Außergewöhnliches. Ein Poltern riss ihn aus dem Schlaf. Er fuhr hoch und torkelte in das Zimmer seiner Töchter. Die hielten staunend einen Goldklumpen in Händen, der in ein Tuch gewickelt war und so groß, dass er eine Delle in den Fußboden geschlagen hatte und dass man eine ganze Hochzeit damit ausstatten konnte. Die älteste Tochter jubelte unter Tränen; ihre Schande war abgewendet.

Gestern Nacht flog ein zweiter Goldklumpen durchs Fenster. Die mittlere Tochter war gerettet.

Was war mit der Jüngsten? Dachte der heimliche Wohltäter auch an sie? Der Kaufmann wollte unbedingt herausfinden, wer sie so reich beschenkte. Deshalb stand er hier in der Kälte, nahe dem offenen Fenster seiner Töchter. Hörte er nicht schon leise Schritte? Nein, es war ein Hund. Er schnüffelte an seinen Schuhen und trottete weiter. Dann war es wieder still. Nur der Wind blies und der Fensterladen quietschte. Er schämte sich, dass er hier heimlich lauerte. Er schämte sich, dass er seine Töchter verkaufen wollte wie früher seine Waren. Auch wenn das Gold für die Jüngste ausblieb, wollte er einen anderen Weg aus der Not suchen. Sie sollte nicht seinetwegen in Schande geraten!

Ein leises Geräusch schreckt ihn aus seinen Gedanken. Nur einen Augenblick sieht er die Gestalt am Fenster, hört drinnen im Haus den Aufschlag und dann hastige Schritte sich entfernen. Er springt aus seinem Versteck ihnen nach. Doch der heimliche Wohltäter muss ihn bemerkt haben, denn er beginnt zu laufen. Der Kaufmann verfolgt ihn, rennt so schnell er kann, erwischt ihn am Mantel, reißt ihn zu Boden, steht atemlos über ihm, der sein Gesicht verbergen will. „Wer bist du, ich muss es wissen!“, keucht der Kaufmann.-  „Bitte, bitte verrat es niemandem!“, fleht der am Boden. Der Kaufmann verspricht es.

Als Bischof Nikolaus von Myra, mutiger Bekenner, Wohltäter der Armen, Fürsprecher der Seeleute und unermüdlicher Kämpfer gegen das Unrecht, starb, erzählte der uralte Kaufmann, wie Nikolaus als junger Mann seine Töchter gerettet hatte.

Daraus entwickelte sich der Brauch, die Kinder am Nikolaustag heimlich zu beschenken.

Denn: „Wenn du Almosen gibst, soll deine Linke nicht wissen, was deine Rechte tut, damit dein Almosen im Verborgenen bleibe; und dein Vater, der ins Verborgene sieht, wird dir vergelten.“

 

© Maria Harbich-Engels, Winterzauber 2008/ korr. Dez.2011