Der Knopf im Hirn

Seit jeher haben die Menschen mit den Händen das Lebensnotwendige hergestellt. Durch das Tun ihrer Hände sammelten sie Erfahrung, erweiterten ihr Wissen, entwickelte sich ihr Gehirn. Noch unsere Großmütter nähten eigenhändig an ihrer Aussteuer und unsere Mütter strickten und nähten unsere Kleidung, als wir noch Kinder waren. Heute sind handwerkliche Tätigkeiten aus dem Großteil der Haushalte verschwunden. In der Schule spielen sie eine lächerlich untergeordnete Rolle. Was aber macht der Mangel an Hand-Erfahrung mit unseren Gehirnen?

Christine Groß befasst sich seit zwei Jahren intensiv mit diesem Thema. Im Rahmen der „Textilen Kultur Haslach“ in Oberösterreich berichtete sie darüber in ihrem Vortrag „Der Knopf im Hirn“. Zuerst erzählte sie von ihren persönlichen Erfahrungen. Textiles Handwerk war in ihrem Elternhaus allgegenwärtig. Das Sortieren der Knöpfe in der Knopfkiste vermittelte ihr einen ersten Begriff von Mengenlehre und das Nähen von Puppenkleidern förderte Feinmotorik, Zusammenspiel der Hände, Tastsinn und räumliches Vorstellungsvermögen, was alles sie als Medizinerin gut gebrauchen kann. 2010 nahm sie in Haslach an einer Experimentierwerkstätte teil, bei der eindrucksvolle Untersuchungen durchgeführt wurden: Mittels MRT wurden die Gehirne von 12 Frauen dargestellt, während sie Occhiknoten knüpften. 6 der Frauen waren ungeübt und lernten, während die anderen 6 diese komplizierte Knötchenspitzentechnik beherrschten. Bei diesen, den geübten, Frauen waren nicht nur die Bereiche des Gehirns aktiv (stärker durchblutet), die die Bewegung der Hände koordinieren, sondern auch ein Areal im vorderen linken Stirnlappen, das für komplexe Denkvorgänge (Zuordnung von Zeit, Raum, Zweck) zuständig ist und bei depressiven Menschen oft inaktiv bleibt. Das bedeutet: Im Gehirn ist beim Erlernen der Occhi-Technik etwas gebahnt worden. Das Tun der Hände hat etwas im Gehirn gemacht. Lernen ist ein aktiver Austausch mit der Umwelt, wir „begreifen“ sie. Was über die Sinne eindringt, hinterlässt Spuren in den Synapsen, bildet ein Netzwerk von Verbindungen im Gehirn.

„Die Wahrnehmung wird durch das Handeln verbessert“ schrieb der amerikanische Philosoph M. Crawford in seinem Bestseller „Ich schraube, also bin ich – Vom Glück etwas mit eigenen Händen zu schaffen“, nachdem er seinen Bürosessel mit einer Motorradwerkstätte vertauscht hatte. Er meinte, erst dort hätte er denken gelernt. Planung und Ausführung müssten Hand in Hand gehen. Das Denken darf nicht vom Tun getrennt werden. Eine Handwerkstätigkeit bietet eine vielfältige Umgebung mit unterschiedlichen Wahrnehmungsangeboten. Man lernt dadurch, etwas ausdauernd zu üben und durchzuhalten, Genauigkeit, Sorgfalt, Verantwortungsbewusstsein. Langjährige Übung befähigt schließlich zu intuitiven Urteilen in  komplexen Situationen. Ein erfahrener Feuerwehrmann weiß, wann er das brennende Haus verlassen muss, bevor es einstürzt. Auf der Basis von langjähriger Erfahrung entwickeln wir Kreativität bei der Lösung komplizierter Probleme.

Christine Groß befragte in Haslach im letzten Jahr in längeren Interviews 12 Frauen, warum sie weben, stricken, filzen, sticken. Sie fand heraus, dass die Freude des Handhabens, das kreative Spielen, das Ganz-bei-sich-Sein dabei, die meditative Tätigkeit für diese Frauen ein wichtiger Ausgleich sind. Selbermachen steigert ihr Wohlbefinden und ihr Selbstwertgefühl.

Zusammenfassend kann man sagen: Wir müssen etwas gut tun, um es begreifen zu können. Erst wenn wir Hand angelegt haben, lernen wir, genauer hinzusehen. Das befähigt uns wiederum, unser Tun zu verbessern. Langjährige Übung erzeugt ein implizites Wissen, aus dem wir schöpfen können. Wir entwickeln Problemlösungsstrategien und ganz nebenbei Kreativität.

Christine Groß hat Medizin und Psychologie studiert, war Managerin in der Pharmazeutischen Industrie und Studiendekanin für den Fachbereich Medizin an der Privatuniversität Witten-Herdecke. In Deutschland engagiert sie sich seit Jahren mit dem Verein „Weben+“ für die Förderung des Handwebens.