Die Flucht nach Ägypten

Heliopolis am Nil, heute ein Stadtteil von Kairo.

In den Ruinen eines verfallenen Tempels haben sich Arme und Flüchtlinge eingenistet. Unter ihnen die heilige Familie. Sie hat in einem Winkel an der Außenwand Unterschlupf gefunden. Maria hockt auf einem Schemel und hält ihren zweijährigen Sohn Jesus am Schoß.

Maria: Ah, Josef kommt zurück, heute hat ihm endlich wieder jemand einen Auftrag erteilt. Schalom! Pst, sei leise, Jesus ist gerade erst eingeschlafen!

Josef: Schalom, Maria. Was ist los? Er schaut ja völlig verweint aus. Haben sie wieder mit Steinen nach euch geworfen?

Maria: Jemand muss ihm von dem Massaker in Judäa erzählt haben. „Herodes hat alle Buben  umgebracht“, wimmerte er und hielt sich die Ohren zu, „Mama,  die Mütter schreien!“ Den ganzen Tag war er nicht zu beruhigen. Komm, setz dich her, nimm du das Kind, ich mach inzwischen Feuer.

Josef: Du brauchst kein Feuer zu machen.

Maria: Was sagst du da? Ich dachte, du hättest heute Arbeit gefunden!

Josef: Ja, Arbeit schon. Ich hab eine Zwischenwand gebaut, aber als ich fertig war, jagten sie mich davon. Und lachten auch noch, als ich sie anflehte, mir wenigstens ein paar Bissen Brot für das Kind zu geben.

Maria: Überhaupt nichts haben sie dir gegeben?

Josef: Maria, morgen schlachte ich den Esel. Ist zwar nur Haut und Knochen, aber das Kind verhungert uns sonst. Und ich brauch auch einmal etwas Kräftiges. Wie soll ich denn arbeiten mit nichts als ein paar Datteln im Magen?

Maria: Den Esel? Wie kommen wir dann in die Heimat zurück?

Josef: Solange Herodes noch lebt, brauchen wir darüber nicht nachdenken.

Maria: Gibt es denn keine andere Lösung? Der Esel hat uns nach Bethlehem getragen und nach Nazareth, und wieder zurück nach Judäa, durch die Wüste… – Erinnere dich, wie er gelaufen ist, als wir schon den Staub sahen, den die Soldaten aufwirbelten! Ohne ihn wären wir niemals hierher gekommen!

Josef: Dann müssen wir weg von hier, lasst uns das Glück in Memphis versuchen!

Zwei Wochen später. 

Maria: Jetzt sind wir fast wieder dort, von wo wir vor zwei Wochen aufgebrochen sind!

Josef: Hätte ich gewusst, dass die in Memphis keine Flüchtlinge aufnehmen, hätten wir auf kürzerem Weg hierherkommen können.

Maria: Wir hätten uns diesen verwahrlosten Ort nicht ausgesucht, solange wir noch von Memphis träumten.

Josef: Da hast du Recht.

Maria: Schau hinüber, Heliopolis in der Abendsonne!

Josef: Lauter Ruinen, die Tempel sind eingestürzt, die Paläste verfallen.

Maria: Das muss einmal eine prächtige Stadt gewesen sein!

Josef: Und heute ist überall wo du hinkommst nur Schlamm auf den Straßen. Wir schauen aus, als wären durch die Sümpfe gewatet, anstatt die Nilbrücke zu benützen. Kein Wunder, dass uns niemand wollte!

Maria: Den Schlamm kann ich abwaschen! Aber wo sollen wir jetzt hin? Es wird bald Nacht! Ein Glück das Jesus so gut schläft, wenn er im Korb auf dem Esel sitzt.

Josef: Gehen wir zurück zum Stadttor! Dort habe ich ein altes Gewölbe gesehen. Die eine Seite war zwar schon eingestürzt, aber ein Dach über dem Kopf wäre es. seufzt Ich hatte gehofft, wir finden was Besseres. …Schau, da sind wir schon.

Maria: Hier wohnen rundherum keine Leute, dann kann uns niemand belästigen.

Josef: …aber auch niemand beistehen, wenn Räuber kommen.

Maria: Denk an die wilden Wegelagerer in der Wüste! Die haben uns auch nichts getan. Sie haben uns sogar etwas zu essen gegeben und das Badewasser für das Baby gewärmt.

Josef: Ja, Maria, Gott schützt uns. Aber ich glaub kaum, dass er das tut, wenn wir uns auf die faule Haut legen und unser Hirn nicht benützen.

Ich schau mich einmal um. Hm, Waschwasser gibt es genug, wenn du dich mit dem schmutzigen Nilwasser zufrieden gibst, aber ich habe hier noch keinen Brunnen gesehen. Die Leute werden doch nicht das Nilwasser trinken!

Maria: Josef, komm bitte her, ich hab was gefunden!

Josef: Was scharrst du da im Dreck herum?

Maria: Bitte, Josef, hilf mir graben.

Einige Tage später hat Josef einen alten Brunnen freigelegt. In der folgenden Nacht hatte er einen Traum. Er sah Hiob zusammen mit seinen Knechten diesen Brunnen graben. Josef kannte die uralte Geschichte, die von Generation zu Generation weitergegeben wurde, hatte aber nicht gewusst, dass sie sich hier im Nildelta ereignet hatte. Jetzt fiel es ihm leichter, hier zu bleiben. Er richtete das alte Gewölbe wohnlich ein und fand später genug Arbeit. Wenn auch die Leute ihn nicht immer dafür bezahlten, so überlebte die heilige Familie doch einige Jahre in Ägypten, bis sie schließlich mit dem alten Esel noch einmal den Nil überquerten, die Wüste durchwanderten und nach Nazareth zurückkehrten. Der Brunnen jedoch, den Maria gefunden hatte, spendete den Menschen des Elendsviertels, die inzwischen Freunde geworden waren, noch lange sauberes Wasser. Das soll sogar Kinder vom Aussatz befreit haben.

©Maria Harbich-Engels nach Anna-Katharina Emmerich, D. Marienleben