In Kälte und Armut

Giuseppe blieb keuchend stehen. Sein Atem gefror zu weißen Wolken. Raureif rieselte aus der Steineiche, deren schwankenden Stamm er umklammerte. Er rieselte auf sein schulterlanges braunes Haar und in die langzipfelige Kapuze seines Umhanges. Doch das kümmerte den jungen Mann nicht. Er hastete weiter, schlitterte über die feuchten Steine zwischen den Bäumen, hielt sich an Zweigen fest, rutschte. Endlich war der steile  Hang zu Ende. Mit fliegenden Kleidern sprang er auf den Weg und blickte zurück. Dort, wo er die Höhle wusste, sah er noch immer den schwachen Schein von Fackeln. Ein rauer Jauchzer fuhr aus seiner Kehle. Er musste zu Caterina. Der Nachtwind trug ein paar Takte eines fernen Gesangs herüber, übertönt fast vom Brausen in seinem Ohr, vom Poltern der Steine unter seinen nun wieder laufenden Füßen. Die dunklen Steineichen blieben zurück, Gestrüpp stand am Wegrand, dann Olivenbäume im fahlen Mondlicht. Dahinter das weite Tal von Rieti. Schon kamen die ersten Häuser. Laut hallten seine Schritte in den Gassen. Er fand das Haus, bückte sich um einen Stein und warf ihn gegen die geschlossenen Fensterläden im oberen Stock. Er warf einen zweiten.

Caterinas fein geschnittenes, von dunklen Haaren umrahmtes Gesicht erschien zwischen den leise aufgeschobenen Fensterläden. „Bist du verrückt?“, flüsterte sie, „Es ist mitten in der Nacht.“ Sie zog das wollene Tuch fester um die Schultern und versuchte böse dreinzuschauen.

„Es ist die Heilige Nacht, Caterina.“ Guiseppe rang noch immer nach Atem. „Um mir das zu sagen, musst du mich aufwecken? Und wie siehst du überhaupt aus? Dein schöner neuer Umhang ist ja ganz schmutzig!“ –

„Ich war bei der Höhle oben, Caterina. Francesco hat dort Christi Geburt gefeiert.“

„Mitten im Wald? Und welcher Francesco? Der umbrische Bettelmönch etwa?“

„Ja Caterina, du hättest ihn sehen müssen. Seine kranken Augen waren rot und entzündet und trotzdem leuchteten sie, das werd ich mein Leben lang nicht vergessen.“

„Und du Esel bist mit ihm dort in der kalten Höhle gesessen.“ Catarina schüttelte sich.

Guiseppe ließ sich nicht beirren. „Ein Esel war schon dort, ein echter, und ein weißer Ochs mit langen geschwungenen Hörnern. In der Mitte eine Futterkrippe mit Stroh, sonst nichts, als ich hinkam. Aber von überallher sah ich Lichter näher kommen. Aus vielen Dörfern im weiten Umkreis kamen die Menschen. Der Wald rund um die Höhle war von ihren Fackeln erhellt, als die Messe begann.“

„Ihr habt Messe gefeiert dort in der Wildnis? Genügt euch denn das Hochamt morgen am Christtag nicht?“

„Caterina, so hör doch! Wir begannen die Messe. Francesco kniete vor der leeren Krippe. Er schaute so innig hinein, als läge das göttliche Kind selbst dort im Stroh. Auf einmal rief einer der alten Männer: ‚Seht ihr! Das Kind! Das Kind!’, und rannte zur Futterkrippe, um sich davor auf die Knie zu werfen.“ Guiseppe strahlte vor Begeisterung aber Caterina lächelte spöttisch.

„Das muss ja recht absonderlich ausgesehen haben.“

„Keiner hat ihn ausgelacht, Caterina, du hättest auch nicht gelacht, wenn du dort gewesen wärst. Obwohl hunderte Leute dort standen, war es ganz still, –  als begriffen die Menschen erst jetzt, dass Gott in dieser Nacht, in dieser Kälte, in dieser Armut Mensch geworden ist.“

Vom Fenster her war nichts mehr zu hören. Guiseppe schaute hinauf, zerrissen zwischen der Freude, die ihn erfüllte und dem Zweifel, der ihm entgegenschlug. Er spürte die Nachtkälte, die langsam unter seinen Umhang kroch. Einzelne feuchte Flocken tanzten vom Himmel, der sich bedeckt hatte. Er sah Caterina nicht mehr, es war dunkel geworden. Da hörte er ihre Stimme zwischen den Fensterläden, leise, nicht mehr so spitz wie zuvor. „Wir sehen uns beim Hochamt, Guiseppe. Bitte, erzähl mir dann alles noch einmal.“

Dies geschah im Jahre 1223, als der Heilige Franziskus in den Sabiner Bergen nördlich von Rom, in einer Höhle bei Greccio Weihnachten feierte und damit die Darstellung der Weihnachtskrippe begründete.

Weihnachten 07, ©Maria Harbich-Engels