Jagd. 2022

Das Rudel bewegte sich lautlos. Das dürre Gras des ungewöhnlich trockenen Sommers zerfiel zu Staub unter den Pfoten. Fa versuchte, die Wölfe zu zählen. Einige liefen dicht nebeneinander, andere tauchten nur hin und wieder aus den nächtlichen Schatten der schütteren Baumreihen zwischen den Feldern. Sie liefen rasch. Sie hatten ein Ziel. Ihre Blicke waren nach vorne gerichtet, aber ihr Sinn ging nach hinten. Sie empfingen Befehle von einem Leittier, das er nicht sehen konnte. Fa spürte ihre Anspannung, ihre stumme Kommunikation untereinander. Sie liefen und liefen. Ihre Bewegungen glichen einander. Jetzt hörte Fa ihren Atem. Das Rudel rückte immer dichter zusammen. Das Ziel musste nahe sein. Wohin liefen sie? Fa spürte, wie ihm die Angst überkroch wie kalte Insekten, von den Fersen bis in den Nacken. Die Haare stellten sich auf. Er tastete nach dem Gewehr, doch er griff ins Leere. Jetzt war das Rudel auf seiner Höhe, wurde aber keineswegs langsamer. Sie hechelten synchron. Die Leitwölfin war zu ihnen gestoßen. Ein schönes Tier. Für einen Augenblick hielt sie inne im Lauf, starrte Fa an. Er sah ihre kalten Augen. Ihre Lefzen entblößten tödliche Zähne. Ein tiefes Grollen stieg aus ihrer Kehle.

Plötzlich hörte er die Stimme seiner Schwester. Fa wachte auf. Er spürte noch die kalten Insekten über seinen Rücken laufen. Er fühlte den tödlichen Blick der Wölfin. „Ich will nur das beste für dich!“, sagte die Schwester mit sanfter Stimme. Fa hatte das Gefühl, dass ihm eine wichtige Information entgangen war. Wohin waren die Wölfe gelaufen?

Als er das nächste Mal wach wurde, hörte er seine Freundin K. im Krankenzimmer sprechen. „Das ist die Antwort“, dachte er, „aber auf welche Frage?“ Der Gedanke entglitt ihm. „Wird er wieder sehen können?“, fragte K.. „Wir rechnen nicht damit. Es ist schon ein Wunder, dass er überlebt hat.“ Die Stimme das Arztes wurde undeutlich, entschwand. Fa sah bunte Bilder. Sollte er wirklich blind sein? Er sah sich mit K. auf der Veranda sitzen. Rundherum standen Hochbeete mit verschiedensten Kräutern. K. hatte Leben gebracht in seinen Betonhof, Leben und Ordnung. Er wollte sie heiraten. Jahrelang schon bekniete er sie. Würde sie ihn auch heiraten, wenn er nichts sah? Sie hatte so etwas gesagt.

„Ich sehe unsere Veranda, deine Kräuterbeete.“, sagte Fa. „Du fantasierst!“, sagte K.. Tränen schwammen in ihrer Stimme. Sie hielt seine Hand.

Am nächsten Tag, als K. ihn wieder besuchte, entzog er ihr die Hand. Das hätte sie schon misstrauisch machen sollen. Doch nicht sie misstraute ihm, sondern er misstraute ihr plötzlich. Unter den sanften Worten der Schwester war er ein anderer geworden. Die meinte es so gut mit ihm, hatte ihm die Augen geöffnet. Die inneren zumindest, sehen konnte er immer noch nicht. „Wie lange kennst du K. eigentlich?“ – „Schon viele Jahre lang will ich sie heiraten!“, hätte er sagen können. „Sie wollte nur deinen Besitz, sie steckt hinter deinem Unfall!“ – „Ich wollte sie schon beerben, als von Beziehung noch überhaupt keine Rede war.“, hätte er sagen können. „Warum hat denn sie selbst nichts von dem gepantschten Alkohol getrunken?“ – „Sie hat gerade Antibiotika genommen wegen eines Zahnimplantats. Von ihrem Vater wusste sie, wie gefährlich Alkohol zusammen mit Antibiotika sein können.“, hätte er sagen können. So aber sagte er nur später zu K.: „Lass sie reden. Du musst darüber stehen.“ Und ließ sie hängen zwischen falschen Verdächtigungen und ungerechtfertigten Vorwürfen.

Das Sehvermögen verbesserte sich, doch die Augen strahlten nicht mehr so fröhlich, wenn K. bei ihm war. Bis dato hatte sich die Schwester nie um ihn geschert, was ihn sehr erbittert hatte. Aber eine womöglich erbberechtigte Frau wusste sie zu verhindern. „Alles soll bleiben, wie es war.“, sagte er. Es war aber nichts mehr wie vorher. Die Schwester hatte eine Rotte von guten Freunden mit ihren Verdächtigungen aufgehetzt. Warum sie wohl mitliefen? Als K. endlich hinausgebissen war, saß Fa wieder allein auf seinem Betonhof. Da fiel ihm plötzlich der Traum wieder ein. Wie Schuppen fiel es ihm von den Augen, aber es war zu spät. Er würde nicht mehr erleben, wie schön Liebe und Familie sein können.