Nikolaus und die Diebe

Nach einer alten russischen Legende

Nick schloss die Haustüre hinter sich. Ah, Sonne, Sand und Meer! Wie sehr hatte er sich auf diese Woche in Tunesien gefreut. Apropos Sonne, er hatte etwas vergessen! Schnell sperrte er noch einmal auf. „Chris, hast Du meine Sonnenbrille irgendwo gesehen?“, rief er über die Schulter zurück, wo seine Frau und seine Tochter Nina bereits im Auto saßen. Sie sollten eigentlich schon zum Flughafen fahren. „Schau in die zweite Lade im Kasten neben dem Spiegel!“, hörte er rufen. Er zog die Lade auf, kramte eine Weile, konnte aber die Brille nicht finden. Plötzlich hatte er eine Ikone des Hl. Nikolaus in der Hand. „Wie kommst denn du daher?“, brummte er. Seine Schwägerin Tatjana hatte ihm einmal das Bild geschenkt, weil der Hl. Nikolaus doch sein Namenspatron sei. Was für eine unnötige Geldausgabe! Das ärgerte ihn noch heute. Wer glaubte denn noch an Heilige und so einen Kram! Damals war die Ikone in der Lade verschwunden und er hatte sie längst vergessen. Jetzt aber betrachtete er sie nachdenklich. In ihrer Wohngegend wurde neuerdings viel eingebrochen. Diebsbanden hatten es besonders auf elektronische Geräte abgesehen. Obwohl das Haus eine Alarmanlage hatte, war Nick beunruhigt. „Tatjana hat etwas von Wundern gefaselt, als sie mir die Ikone schenkte. Das Original soll heute noch Wunder wirken.“, erinnerte sich Nick. „Na, dann zeig, was du kannst!“, rief er mit plötzlicher Heftigkeit und lachte auf. „Ich lehn dich hier hinter die Haustüre und du stehst Wache. Wenn unser Haus vor den Einbrechern verschont bleibt, will ich dein Bild im Wohnzimmer aufhängen.“ – „Nick, wo bleibst du so lange?“, rief jetzt seine Frau schon hörbar ungeduldig. So ging er ohne Sonnenbrille, versperrte die Wohnung und fuhr in den Urlaub.

Als er eine Woche später wieder zurückkam, fand er seine Befürchtungen bestätigt. Er musste die Eingangstüre mit Gewalt aufschieben, da sie durch den umgestürzten Vorzimmerkasten blockiert war. Nina zwängte sich an ihm vorbei und stürzte in ihr Zimmer, aus dem spitze Schreie und bald ein hysterisches Schluchzen zu hören waren. Seine Frau lehnte kreidebleich am Türstock. „Pass auf, Nina! Vielleicht ist noch jemand im Haus!“, schrie sie mit kippender Stimme. Nick sah den Berg aus Scherben und herausgerissenen Laden in der Küche und die leeren Wände im Wohnzimmer. Blinder Zorn erfasste ihn. „So gut hast du also aufgepasst!“, brüllte er und versetzte der Ikone einen Tritt, dass sie quer durch die Vorhalle und das verwüstete Wohnzimmer schlitterte. Sie flog durch die zerbrochene Scheibe der Verandatüre, polterte über die Stiegen und blieb draußen im dunklen Garten liegen.

Am selben Abend versammelte sich im Keller eines zum Abbruch freigegebenen Hauses der Stadt die Diebsbande und verpackte die Gegenstände, die sie bei Nick gestohlen hatte, für den Weiterverkauf. Die Burschen entdeckten eine Digitalkamera und amüsierten sich, indem sie einander fotografierten und sich dann am Display betrachteten. „Da bin ich gut drauf! Wenn das meine Freundin sehen könnte!“, rief einer, während er selbstgefällig seine schwarzen Haare aus dem Gesicht strich und dann: „Verdammt, dreht sofort den Scheinwerfer ab, mir brennt’s die Augen aus!“  Keiner antwortete, jeder versuchte verzweifelt, seine Augen vor dem plötzlichen grellen Licht zu schützen. Die jungen Männer drängten sich dabei dicht zusammen, stießen aneinander, fluchten und torkelten. Nach einigen Minuten nahm einer nach dem anderen vorsichtig die Hände von den Augen und starrte sprachlos in die Ecke des Raumes. Da stand, als wäre er eben mit Schwung durch eine, allerdings nicht vorhandene, Türe getreten, ein bärtiger Mann im gleißenden Licht. Offensichtlich war er ein Bischof – er hatte einen geschwungenen Stab in der Hand, aber er sah ziemlich mitgenommen aus. Seine Mütze war ihm abhanden gekommen, sein goldenes Gewand zerrissen. Gesicht und Arme zeigten schlimme Schürfwunden. Dennoch sprach er mit Würde: Er sei der Hl. Nikolaus und ihretwegen so zugerichtet worden. Wenn sie Nick nicht alles zurückbrächten, würden sie bald in ernsten Schwierigkeiten stecken. Urplötzlich, wie er erschienen war, verschwand er auch wieder. Die jungen Männer sahen einander unsicher an: Hatte jeder dasselbe gesehen? Offensichtlich, denn in allen Gesichtern lag Staunen und Ratlosigkeit und alsbald auch helle Angst, von der Polizei entdeckt zu werden. In ihrer Heimat wurde der Hl. Nikolaus sehr verehrt. Sie hatten Respekt vor ihm und hatten seine Warnung wohl verstanden. Nach langem Hin und Her packten sie alles, was sie bei Nick erbeutet hatten hastig wieder zusammen, luden es in ihren Lieferwagen und fuhren damit zu Nicks Haus. Sie wollten es im Schutz der Dunkelheit in den Garten legen und verschwinden.

Noch während sie abluden, stolperte der mit den schwarzen Haaren über die beschädigte Nikolausikone. „Schaut her, was ich gefunden habe!“, wisperte er und betrachtete das Bild im Schein seiner Taschenlampe. Erschrocken umringten ihn die anderen. „Der schaut ihm aber verdammt ähnlich.“, flüsterte der Jüngste und fiel dabei in seine noch nicht ganz überwundene Jungenstimme zurück. Sein hagerer Freund neben ihm brummte: „Außer dass er nicht blutet.“ – „Und nicht blendet!“, fügte der große Blonde, der offensichtlich ihr Anführer war, lakonisch hinzu. „Darf man wissen, was Sie in meinem Garten verloren haben?“ Die scharfe Stimme des Hausherrn ließ sie herumfahren. Zum zweiten Mal an diesem Abend drängten sie sich ratlos zusammen, während Nick zum Handy griff um die Polizei zu verständigen. Da hielt ihm der Junge die Ikone hin und rief verzweifelt: „Aber der Hl. Nikolaus hat uns hergeschickt.“ Und stockend erzählte er, was sie erlebt hatten. Nick hörte schweigend zu. Nach und nach verblasste die Wut auf seinem Gesicht. Plötzlich drehte er sich weg. Er war zu bewegt. Die Sache wühlte ihn auf. Er wusste selbst nicht, warum, aber er glaubte den Männern.

Seine Frau, die vom Wohnzimmer aus zugehört hatte, löste sich aus ihrer Schreckensstarre und bat die sonderbare Gesellschaft mit unsicheren Gesten ins verwüstete Wohnzimmer. Sie kochte Tee, stellte ein paar trockene Kekse dazu und setzte sich dann in die schweigende Runde. Leise begann der Anführer zu erzählen, dass sie trotz ihrer handwerklichen Ausbildung in ihrer Heimat keine Arbeit finden konnten, wie sie zum Einbrechen angeheuert worden sind, dass sie das volle Risiko hätten und wie wenig vom Erlös sie zu Gesicht bekommen würden. Um ihr Gewissen zu beruhigen, hätte man ihnen erzählt, dass die Bestohlenen sowieso alles von der Versicherung bezahlt bekommen würden. Nick schüttelte entrüstet den Kopf: „So ist das leider nicht. Und Diebstahl ist schließlich Diebstahl!“ Die Burschen waren beschämt. Hier inmitten des Chaos, das sie hinterlassen hatten, wurde ihnen die Niederträchtigkeit ihres Tuns auf einmal bewusst. Eigenartiger Weise war auch Nick ziemlich betroffen.

Als die Burschen mit dem Versprechen gegangen waren, am nächsten Tag die ganze Sauerei aufräumen zu helfen, als er sich entschlossen hatte, wenn sie wirklich Wort halten würden auf eine Anzeige zu verzichten, da spürte er tief drinnen etwas. War das Glück? Es war jedenfalls viel schöner als das, was er bis jetzt für Glück gehalten hatte. Es ließ ihn unvermutet lächeln während er seine Frau bat, die Nikolausikone zu restaurieren, damit er sie im Wohnzimmer aufhängen könne: „Als Dank“. Und es freute ihn wirklich, dass sie nickte. Da kam Nina völlig verheult aus ihrem Zimmer. „Seid ihr eigentlich komplett durchgedreht?“, fragte sie bissig. „Stimmt, irgendwie verdreht.“, antwortete der Vater, „ Aber vielleicht ist es gut so.“

© Maria Harbich-Engels, Winterzauber 2008