Sommerheimat

Ich wunderte mich immer, dass ich mit dem Wort Heimat nichts anfangen konnte. Die trostlose Stadtrand-Siedlung, in der ich aufgewachsen war, eignete sich einfach nicht dazu. Viel eher schon vermittelte mir ein unscheinbares Bauernhaus auf 1300m Seehöhe dieses Gefühl. Es steht in Kartitsch in Osttirol. Ich bin nicht dort geboren, habe keine Verwandten in dieser Gegend, ja nicht einmal jemanden, der dort an mich denkt. Insgesamt habe ich nur wenige Wochen in jenem Dorf verbracht, verteilt auf die Ferien meiner Kindheit. Dennoch und obwohl ich vor achtundzwanzig Jahren in Begleitung meines Mannes und meines noch ungeborenen Sohnes zum letzten Mal auf dem Hof gewesen bin, ist mir seine Lage unterhalb des Dorfzentrums an der Abzweigung nach Hollbruck und fast am Ufer der Gail unauslöschlich eingebrannt. Noch heute rieche ich das duftende kräuterreiche Heu im Stadel, sehe das Licht durch das angelehnte Tor auf die altehrwürdigen Bohlen der Tenne fallen und den Staub darin tanzen, wenn wir Sommerkinder verbotener Weise ins Heu gesprungen sind. Noch heute schmecke ich die süße Milch und höre das Feuer im gemauerten Herd prasseln, auf dem auch im Sommer gekocht wurde. Oft gingen meine Mutter, meine kleine Schwester und ich das Wegerl an der Gail entlang und dann durch blühende Wiesen zur Kirche hinauf. Die Menschen der Vorzeit hatten sie in der Mitte des Tales auf einer Anhöhe gebaut. Der gotische Turm zeigte mit seiner hohen Spitze eindringlich und unangefochten zum Himmel. Er beherbergte Glocken, die das – in meinen kindlichen Augen – paradiesische Tal mit ebensolchen Klängen erfüllten. Eines Tages läuteten sie länger als sonst, schallten die bewaldeten Hänge hinauf bis zu den felsigen schroffen Spitzen der Berge und riefen die Menschen aus den entferntesten Höfen. Von dort eilten sie, in kostbare traditionelle Kleider gehüllt, goldglänzend und schwarz und rot, in kleinen Gruppen auf schmalen Wegen zur Kirche. Der herrlich schwingende Ton der kartitscher Glocken begleitete sie den ganzen Weg von St. Oswald herunter, das hohe Geläut ihrer gotischen Filialkirche hinter sich lassend, das die Botschaft ins tief unten liegende Drautal rief: „Primiz ist!“, „Primiz ist!“. Der Primiziant war ein großer junger Mann, der alle um mehr als Haupteslänge überragte. Diesem Umstand ist es zu verdanken, dass ich, klein, an der Hand der Mutter und eingekeilt zwischen hunderten Festgästen, doch eine Erinnerung an seine ernste, gesammelte Erscheinung bewahrte.

„Heute berührt der Himmel die Erde!“, sagten mir die Wagenladungen von Blumen, mit denen die hölzernen Balkone der Häuser geschmückt waren, die Salven der Schützen in roten Westen und mit großen federgeschmückten Hüten und der dumpfe Klang der Böller, der von den Felswänden widerhallte. „Heute feiert ein neugeweihter Priester seine erste Heilige Messe“, erklärte mir die Mutter. „Heute wird einer von uns und für uns vor Gott hintreten“, strahlten die Gesichter der Frauen mit ihren aus langen Zöpfen geformten Haarkronen, sprach aus den verwitterten und stolzen Antlitzen der Männer.

Das Fest dauerte den ganzen Tag. Als die Sonne untergegangen war und sich über das dunkle Tal – Straßenbeleuchtung gab es damals noch kaum – ein samtschwarzer Himmel spannte, flammten mit einem Mal rund um auf den Bergen hoch oben über der Waldgrenze feurige Bilder auf: ein riesiger Kelch mit der heiligen Hostie darüber ist mir in Erinnerung geblieben, ein brennendes Herz, ein strahlendes Kreuz.

Seltsamerweise vermischen sich mir diese Bilder mit einem ganz anderen Ereignis in Kartitsch, das ebenso viele Menschen versammelte und einen ebenso jungen Mann betraf: das Begräbnis des Schustersohnes. So wie das Messopfer das blutige Geschehen am Kreuz vergegenwärtigt, gab es auch hier wohl einen Zusammenhang, den mein kindliches Gemüt knüpfte: Der Primiziant trat vor Gott hin durch das unblutige Opfer seines Lebens. Dem Sohn des Schusters, abgestürzt vom Rosskopf, der einst das feurige Herz getragen hatte, war ein blutiger Weg beschieden, um heim zu gelangen zum Vater. Denn der Himmel ist unser Zuhause und unsere wahre Heimat.

© Maria Harbich-Engels