Unter der Terebinthe

Ungefähr eine Tagesreise von Jerusalem entfernt wanderten zwei Menschen  unter dem Sternenhimmel durch ein hochgelegenes Tal. Sie hatten für die Nacht keine sichere Unterkunft gefunden. So gingen sie weiter aus Furcht, im Schlaf von Räubern überrascht zu werden.

Es war empfindlich kalt geworden, seit die Sonne hinter den Bergen verschwunden war. Die Frau saß seitwärts auf dem Esel, der auch ihr weniges Gepäck trug. Sie versuchte, sich fester in ihre weiten Kleider einzuhüllen, aber die Kälte drang hindurch. Sie war schon ganz elend davon, als sie schließlich zu dem Mann, der den Esel führte, sagte: „Ich kann nicht mehr.“ Der schaute besorgt nach ihr, fuhr ihr tröstend über den Rücken und antwortete: „Siehst du den Baum dort vorne? Dort wollen wir rasten.“ Der steinige Pfad stieg ein wenig an und bald standen sie vor einer uralten Terebinthe. Weit oben ragte der Wipfel in die Schwärze der Nacht. Mächtige, weitausladende Äste berührten mit ihren Zweigen fast den Boden. Der Mann holte Decken hervor und breitete sie neben dem dicken Stamm des Baumes aus. Dann half er der Frau vom Esel. Sie war sehr jung. Jetzt konnte man sehen, dass sie hochschwanger war. Aber es sah niemand zu, zumindest bemerkten die beiden es nicht. Die junge Frau war so steifgefroren, dass der Mann sie stützen musste. Zitternd kauerte sie sich auf die Decke. „Hoffentlich werden wir nicht krank, ich …oder das Kind.“ Voll Sorge legte sie ihre Hände auf den Bauch. Da drinnen schlug ein kleines Herz.

Plötzlich war ihr, als würde sie die Wärme dieses Herzens spüren. Pochend trotzte es der Kälte und wärmte die Frau von innen. Ihre Hände wurden ganz warm, entspannt lehnte sie sich an den breiten Stamm.

Der Mann hatte eine Öllampe entzündet und in einen Ast gehängt. Er brachte kleine Brote und einen Krug mit Minzentee. Sie aßen ein wenig. Dann nahm sie seine Hände, um ihm von der Wärme abzugeben, die das Kind ihr geschenkt hatte. Er war froh, dass es ihr besser ging.

Sie saßen im Lichtkreis der Lampe, gelehnt an den schuppigen gelb-grauen Stamm, der  über ihnen mächtig emporstrebte und sich dennoch vielfach verzweigte. Es duftete nach Harz. Die harten, dunkelgrünen Blätter glänzten im Schein der tanzenden Flamme. Kleine rote Früchte hingen in Büscheln dazwischen. Die Frau lächelte: „Vielleicht hat er schon tausend mal Früchte getragen!“ Der Mann strich mit der Hand über den Stamm. Er wusste, wie das Holz der Terebinthe aussah, weil er es einmal für eine Einlegearbeit verwendet hatte. „Wahrscheinlich ist der Baum noch viel älter.“, antwortete er, „Man sagt, Abraham sei im Schatten dieses Baumes gesessen, als Gott ihm  einen Sohn verhieß, ihm dem Hundertjährigen. Und Sara, seine Frau war unfruchtbar.“ – „Ja“, sagte die Frau, „Sara hat gelacht. Sie war ja längst nicht mehr in dem Zustand, in dem man ein Kind bekommen kann.“ Sie sah den Mann von der Seite her an: „Und du, Josef, warum hast du dem Herrn geglaubt?“ Er schwieg eine Weile, als fiele es ihm schwer, darüber zu sprechen. Dann sagte er leise: „Wenn der Engel da ist, dann musst du es glauben. Aber erst wenn er wieder weg ist, weißt du, ob es wahr ist. In dir bleibt dann eine tiefe und feste Freude.“ Sie hörten den Esel dürres Gras abrupfen, das um den Baum herum wuchs. „Ja“, sagte sie dann, „so ist es bei mir auch gewesen. Man kann es nie mehr vergessen.“

Sie ruhten eine Weile und er glaubte schon, sie sei eingeschlafen, als sie sagte: „Jakob und Esau haben sich hier an dieser Stelle versöhnt und dann…“ –  „Sei still“, unterbrach er sie flüsternd, „ ich glaube, wir sind nicht allein.“ Sie lauschten. Leise Schritte entfernten sich und verklangen in der Finsternis. Zum Glück war der Esel noch da und auch vom Gepäck fehlte nichts. So brachen sie wieder auf, obwohl es noch Nacht war und ein kalter Wind über die Berge strich.

Drei Tage später sahen sie im ersten Licht des Tages die steinernen Häuser von Josefs Vaterstadt auf einer Anhöhe liegen. Schemenhaft konnten sie dahinter auf einem hohen, unzugänglichen Berg die Fluchtburg des Herodes erkennen. „Endlich! Bet lechem, Haus des Brotes.“ Die junge Frau atmete auf. Der Mann blickte voll Sorge auf sie. Mit gesenktem Kopf ging sie neben dem Esel her. Obwohl sie heute erst drei Stunden gegangen waren, bereitete ihr jeder Schritt auf dem steinigen Weg Mühe. „Maria, ich habe Verwandte hier, da werden wir sicher eine gute Unterkunft finden!“, versuchte er, sie zu trösten. Sie nickte ihm zu.

Je mehr sie sich der Stadt näherten, desto dichter wurde das Gedränge auf der Straße. Die meisten Leute waren zu Fuß unterwegs. Manche hatten, wie sie, einen Esel dabei. Kinder liefen zwischen den Beinen der Menschen und Tiere hindurch. Aus einem Tragekorb tönte das Schreien eines Säuglings. Ein Trauerzug kam ihnen entgegen: Frauen kreischten ihr Klagegeschrei, junge Männer hatten sich ihre Kleider zerrissen. Kleine Händler standen am Wegrand und boten mit lauten Rufen Lebensmittel an. Dazwischen lungerten zwielichtige Gestalten herum, die aus der Volkszählung auf ihre Art einen Nutzen ziehen wollten. „Vorsicht!“ Josef konnte Maria gerade noch auf die Seite ziehen. Drei römische Soldaten ritten rücksichtslos durch die Menge. Der Staub, den sie aufwirbelten, färbte sich rot im Glanz der Morgensonne und legte sich auf die Gesichter und in die Falten der Gewänder.

Auf dem Platz vor dem Stadttor mussten sie warten. Viele Familien hatten hier ihr Zelt aufgeschlagen. Ein paar Ziegen suchten dazwischen nach Kräutern und Blättern. Angepflockte Esel schrieen, Mütter schimpften und Väter stritten. Plötzlich hatte Maria in all dem Lärm, der sie unangenehm berührte, das Gefühl, als würde sie von jemandem beobachtet. Vorsichtig blickte sie um sich. Da sah sie direkt neben der Wache am Tor einen Mann lehnen, der einen Beutel aus Ziegenfell trug. Er starrte auf sie und ihren Begleiter. Als er den Blick der Frau gewahrte, verschwand er schnell in der Menge.

Endlich hatte Josef alle Formalitäten erledigt und sie gingen durch das alte, schon etwas baufällige Stadttor zum Haus, in dem die Verwandten des Mannes wohnten. Aber die hatten anderes im Kopf und wollten von Josef nichts wissen. Bekümmert fragte er im nächsten Haus nach einer Bleibe und da dieses schon überfüllt war, wieder im nächsten. So ging er durch die ganze Straße, während Maria mit dem Esel wartete. Niemand wollte sie aufnehmen, besonders wenn man hörte, dass eine Geburt unmittelbar bevorstand. Josef versuchte es auch in der nächsten Gasse und in der übernächsten, während Maria mit dem Esel immer am Eingang der Straße wartete. Es waren zu viele Leute in der Stadt. Es roch nicht gut und die Menschen waren aufgebracht durch die Strapazen der Reise, durch die beengten Verhältnisse  und die Schikanen der Besatzungsmacht.

Am Nachmittag konnte die junge Frau kaum mehr stehen. Sie band den Esel an einen Baum und lehnte sich mit geschlossenen Augen an den Stamm. Plötzlich stand jemand neben ihr und sprach sie an. Erschrocken blickte sie auf und sah den Mann mit dem Ziegenfellbeutel. Er verbeugte sich vor ihr und sprach leise auf sie ein. „Ihr habt vor drei Tagen unter der Terebinthe von Bet El gerastet?“ Maria blickte ihn erstaunt an und nickte zögernd. Da kam Josef atemlos heran. Es gehörte sich eigentlich nicht, dass ein Mann eine fremde Frau ansprach, das wollte er ihm sagen. Aber der verbeugte sich nun auch vor Josef. „Ich habe in den Zweigen geschlafen. Als ich aufwachte, habe ich unfreiwillig euer Gespräch belauscht.“ Der Mann blickte verlegen zu Boden und räusperte sich. „Ich habe noch nie einen Engel gesehen – wie ihr -, aber mir brannte das Herz, als ich euch reden hörte.“ Er machte eine Pause. Dann nahm er die Hände von Josef, schaute ihn freundlich an und fragte: „Kann ich euch helfen? Ihr sucht doch dringend eine Bleibe, oder?“ Dabei streifte sein Blick voll Mitleid die junge Frau, die blass und müde dastand. „Ich weiß eine Höhle. Die Hirten benutzen sie manchmal. Vorne ist sie mit einer Mauer verschlossen. Mit einem kleinen Feuer wird sie schon warm werden. Sie ist ein bisschen außerhalb der Stadt, hinter einer Wiese mit Bäumen.“ Der Mann stockte. „Tut mir leid“, murmelte er, „es ist nur ein Stall, aber ich konnte nichts besseres finden. Ich hab es versucht…“ In diesem Augenblick führten zwei Soldaten einen zerlumpten Burschen ab, der laut schreiend seine Unschuld beteuerte. Ein Haufen von Kindern, die auf dem Platz gespielt hatten, riefen ihm Spottverse nach. Der Mann mit dem Beutel aus Ziegenfell versuchte noch einmal, die beiden zu überzeugen: „In der Höhle könnt ihr euch ausruhen. Dort seid ihr sicher.“

Als die Sonne hinter den Häusern von Bethlehem versank, erreichten sie den Platz mit den Bäumen. Und als am kalten Nachthimmel ein seltsam heller Stern alle anderen überstrahlte, da hörte der Mann mit dem Ziegenfellbeutel den ersten Schrei des Kindes. Tränen rannen in seinen Bart, weil er auf einmal erkannte: Es ist der Heiland der Welt!

©Maria Harbich-Engels