Weihnachten am 11. November

„Du hast Schmerzen?“ Emma strich ihrem 12-jährigen Sohn über die schweißverklebte Stirn. Nur ein Wimpernschlag antwortete ihr. Seine hellen Augen blickten sie unverwandt an. „Ich möchte Weihnachten noch erleben.“, sagte er plötzlich. Emma nickte begütigend und verbarg ihren Zweifel. Laurent stand am Ende eines langen und verzweifelten Kampfes gegen Leukämie. Und er hatte ihn verloren. Der Arzt war sehr einfühlend gewesen, hatte ihnen alles genau erklärt, aber die bittere Wahrheit konnte er ihnen nicht ersparen. „Es tut mir leid“, sagte er mit Tränen in den Augen. Er war nicht der einzige im Kinderspital, der Laurent ins Herz geschlossen hatte.

 

Wie hatten sie noch vor zwei Jahren gehofft, die Krankheit wäre besiegt, als es ihm nach der Chemotherapie so viel besser gegangen war. Es war ihr schönstes Weihnachtsfest gewesen, ohne Misston. Jeder hatte sich besondere Mühe gegeben mit der Auswahl der Geschenke, jeder freute sich über eine gelungene Überraschung. Wie immer durften auch die Kinder mit in die Christmette gehen. Wie immer ging Laurent mit den Kleinen vorher zur Krippe im Seitenschiff mit den lebensgroßen Figuren. Die Holzschindeln für den Stall hatte Vater gemacht. Er war auch jedes Jahr dabei, wenn die Krippe aufgebaut wurde.

Emma strich Laurent nachdenklich über den Kopf. Es war Anfang November. Nach der Meinung des Arztes blieben ihm nur wenige Tage. „Zu Weihnachten bist du im Himmel“, dachte sie. Sie weinte dabei, aber sie war nicht verzweifelt. Sie hatte es endlich angenommen, dass es so war. Es würde besser für Laurent sein. Er hatte schon so viel mitgemacht. Sie wünschte ihm Glück, auch wenn sein Sterben für immer eine Wunde hinterlassen würde.

Plötzlich jedoch kam ihr ein Gedanke. Sie ließ den nun schlafenden Sohn allein und setzte sich ans Telefon.

Zwei Tage später wurden dutzende Anrufe, Stunden von freiwilliger Arbeit bis tief in die Nacht hinein und außerordentliche Proben des Schulchores belohnt. Es war der 11. November. Üblicherweise fand an diesem Tag der Martinsumzug statt mit einem echten Pferd, das alle Kinder begeisterte. Heuer war es anders, heuer waren die Kinder einverstanden, darauf zu verzichten. Es war ein Tag, an dem alle Zeit hatten und diese Zeit wollten sie Laurent schenken. Laurent saß warm eingepackt in einem Lehnstuhl hinten in der dunklen Kirche, als die Kinder mit ihren Laternen hereinkamen. Lichter und Schatten huschten über die hohen gotischen Säulen, als sie leise an Laurent vorbei ins dunkle Seitenschiff zogen. Den Kindergartenkindern folgten die Volksschüler und zum Schluss kam noch die Klasse herein, die Laurent besucht hatte, als es ihm noch besser ging. Die größeren Kinder trugen Kerzen, die ihre ernsten und erwartungsvollen Gesichter erhellten. Als auch die vielen Erwachsenen herinnen waren, trug man Laurent mitsamt seinem Lehnstuhl und mitten durch die flackernden Kerzen ins Seitenschiff. Er bewegte sich kaum, aber seine in dem abgemagerten Gesicht übergroß wirkenden Augen begannen zu strahlen. Der aus groben Balken gezimmerte Stall wurde nur durch die Laternenkinder erhellt, die sich überall darin verteilt hatten. Die große Figur des Josef blickte ernst auf sie herab, als wäre es selbstverständlich, dass heuer schon am Martinstag Weihnachten gefeiert wurde. Mutter Maria wirkte fast lebendig im flackernden Licht, wie sie ihr Kind mit unendlicher Süße anblickte. Und dieses Kind hatte sich in seiner Futterkrippe ein wenig aufgerichtet und schien geradewegs auf Laurent zu blicken.

Dessen beiden Geschwister standen stolz neben ihm, dem zu Liebe so viele Kinder gekommen waren. Emma schaute nur auf ihren kranken Sohn, auch so zärtlich wie Maria und sicher ebenso traurig. Der Vater war noch damit beschäftigt, allen den Platz anzuweisen, als ganz leise der Chor zu singen begann. Begleitet von einer Gitarre sangen die Kinder alle Strophen von „Stille Nacht“, das Weihnachtslied, das Laurent am meisten liebte. Nach und nach fielen die übrigen Kirchenbesucher leise ein. Laurent schaute und schaute; in seinen Augen spiegelten sich die Lichter in der Krippe und obwohl er so müde war, lächelte er plötzlich. „Weihnachten“, flüsterte er, „es ist Weihnachten.“ Dann schlief er ein und behutsam trug man ihn aus der Kirche ins Auto.

Er lebte noch drei Tage, die er großteils verschlief. Als er starb lag noch immer das zarte Lächeln auf seinem Gesicht, das beim Anblick des Kindes in der Krippe begonnen hatte.

 

(c) Maria Harbich-Engels