„Heit Nocht is ma des Wischerln vergongan!“

Letzten Herbst, als sich die ersten Nachtfröste ankündigten, rief Tante Gerti an, ob ich mir nicht Endiviensalat einwintern wolle, sie hätte etliche Stück übrig. Froh über dieses Angebot packte ich zwei Plastiksteigen ins Auto und fuhr zu ihr. Sie erwartete mich schon mit dem Spaten in der Hand. Im Vorbeigehen bewunderte ich die herbstliche Pracht ihrer Sträucher und Blumen. Trotz ihrer 81 Jahre pflegte Tante Gerti ihren großen Garten mit Hingabe, war sie doch die Tochter eines Gärtners. Während wir die Salatköpfe samt ihrer Wurzeln vorsichtig aus der Erde stachen und in die Steigen schlichteten, kam sie plötzlich darauf zu sprechen, dass Verstorbene den Hinterbliebenen zum Abschied noch Lebenszeichen geben können. Und sie erzählte mir folgendes:

„Es war im März des Jahres 1926. Die erste Frau meines Vaters war gestorben. Eine Woche nach ihrem Begräbnis ist sein sechsjähriger Sohn Josef an Scharlach erkrankt. Und weil er über 40° Fieber gehabt hat, hat ihn der Vater neben sich ins Ehebett gelegt. Um cirka 11 Uhr in der Nacht ist er aufgestanden, um ihm kalte Essigpatschen zu machen. Dann hat er ihm mit der Hand besorgt über die glühend heiße Stirn gestrichen und sich vorgenommen, die Wickel in einer halben Stunde wieder abzunehmen. Kaum hat er sich niedergelegt, hört er plötzlich, wie die Schlafzimmertür aufgeht. Er richtet sich halb auf und sieht seine verstorbene Frau hereinkommen. Langsam geht sie um den Tisch zu Füßen des Bettes herum – Dort ist noch die Schüssel mit dem Essigwasser draufgestanden – und beugt sich voller Liebe über das kranke Kind. ‚Jetzt holt sie den Buben zu sich’, denkt sich mein Vater und es wird ihm wieder ganz weh zumute. Da geht sie auf die andere Seite des Bettes, zu ihm hin. Er streckt ihr die Hände entgegen. „Leni!“, ruft er. Aber sie zieht sich zurück zum Fenster und entschwindet.“

Wir hatten aufgehört zu arbeiten und standen jetzt schweigend im Salatbeet. Ich schaute in die mächtige Krone der alten Eiche an der Mauer und dachte daran, dass wohl schon Tante Gertis Vater in ihrem noch jungen Schatten gestanden ist. „Weißt du, Maria, mein Vater war ein nüchterner Mann, der war kein Träumer oder Spinner. Der ist mit beiden Füßen im Leben gestanden. In jungen Jahren hat er in Paris und London gelernt. Das war damals schon etwas Besonderes. Später war er der Obergärtner für die Warmhäuser der Rotschilds, bis er dann hier in Deutsch Wagram die Gärtnerei gekauft hat.“ – „In der du aufgewachsen bist“, warf ich ein. „Wann hat dein Vater eigentlich zum zweiten Mal geheiratet?“ – „Ein halbes Jahr später. Der kleine Josef sollte wieder eine Mutter haben. Der Vater hatte keine Zeit, um auf Brautschau zu gehen, aber der Dechant hat die Ehe vermittelt und beide haben es nicht bereut. Nach zwei Jahren kam ich auf die Welt.“ Wir hoben die vollen Steigen auf die Scheibtruhe. Tante Gerti ließ den Spaten in der Erde stecken und gemeinsam gingen wir wieder durch den Blumengarten. ‚Ob die herrlichen Herbstastern den Frost heute Nacht überleben werden?’, fragte ich mich. Tante Gerti war noch nicht fertig mit dem Erzählen. „Am nächsten Morgen hat die alte Großmutter zu meinem Vater gesagt, – das muss ich dir im Originaltext sagen: ‚Heit Nocht is ma des Wischerln vergongan’, hat sie gesagt, sie sei vor Mitternacht aufgestanden, um auf’s Klo zu gehen und da habe sie die Leni gesehen, wie sie ins Schlafzimmer hineingegangen ist.“

Nachdenklich stellte ich die Steigen mit dem Salat ins Auto und jedes Mal, wenn ich später einen aus dem Keller heraufholte, musste ich an Leni denken, wie sie sich von ihrer Familie verabschiedete.

©Maria Harbich-Engels, März 2008