Christine

Erinnerungen einer Großmutter an die Besatzungszeit nach 1945

„Martin!“ Noch während Christine ihren Mann zurückrufen wollte, versickerte ihr Ruf zwischen den Gurkenpflanzen, die an brüchigen Schnüren bis zur Decke des Glashauses emporkletterten. Sie ließ die von Erde und Pflanzensaft gegerbten Hände sinken und biss sich auf die Lippen. Niemand sollte sehen, dass sie zitterten. Wozu hatte man ihr den Mann gelassen, während alle anderen Frauen auf die Heimkehr ihrer Männer warteten oder bereits Witwen waren? Sie musste doch die ganze Arbeit alleine machen. Mit leichtem Erschrecken bemerkte sie die aufsteigende Bitterkeit. Dort fuhr er, gekrümmt über sein klappriges Rad. „Bin ich eine Rabenmutter?“, fragte sie sich. Drei Monate war es her, seit ihr kleiner Erwin am Simmeringer Friedhof begraben worden war. Der Gedanke an die Schultasche, die sie ihm ins Grab gelegt hatte, trieb ihr Tränen in die Augen. Obwohl alt und abgegriffen, war sie doch Erwins ganzer Stolz gewesen. Er konnte sie nie benützen. Ganz allein ist er gestorben, einer von vielen Typhuskranken, die im Spital in eine eigene Abteilung abgeschoben worden waren. „Nicht weinen!“, stammelte Christine und fingerte nach ihrem Rosenkranz, den sie immer in der Schürzentasche trug. Es war schließlich nichts Neues, dass Martin am Nachmittag seine beiden Söhne am Friedhof besuchte. Als ob sie noch dort wären. Franz war erst zwei gewesen, als er an einer Lungenentzündung starb. Sie konnte sich ihn nie anders als mit Flügeln vorstellen. Er wuchs in ihrer Vorstellung rascher als Erdenkinder. Er würde sich schon um Erwin kümmern. Sie jedenfalls musste jetzt die Gurken ernten.

Die vollen Kisten stapelten sich schon im Mittelgang, als Martin verlegen und mit verweinten Augen durch die Glashaustüre trat. Sein Anblick schnitt Christine ins Herz. Die braunen Haare standen ihm wirr vom Kopf. „Wie ein Verrückter sieht er aus.“, dachte sie mit bangem Herzklopfen. Sie nahm ihn um die Schulter, drückte ihm einen Kuss auf die unrasierte eingefallene Wange und sagte: „Gut, dass du da bist. Hilf mir, die Kisten auf den Wagen zu heben.“ Martin wurde bleich und taumelte ein wenig. „Ich bin’s gewohnt“, beruhigte sie ihn, „Um zwei Uhr wache ich sowieso auf. Anschirren, und schon kann ich weiterschlafen. Der Burli findet den Weg zum Markt von alleine. Wenn nur der Wagen beladen ist. Was ist dir?“ Martin zog mit zitternden Fingern ein Schreiben aus der Brusttasche. Es trug den Stempel der russischen Besatzer. „Diese Scheisskerle!“, presste er hervor, „Gurken wollen sie fressen, aber den Gummiwagen beschlagnahmen sie. Sollen wir das Gemüse vielleicht am Buckel nach Inzersdorf schleppen?“ Der hagere Mann keuchte vor Wut, seine Augen flackerten. „Wenn er mir nur nicht überschnappt, ich will schon zufrieden sein mit ihm“, dachte Christine. Doch dann fuhr sie herum. Sie hatte Motorengeräusch gehört. Das bedeutete nichts Gutes. Zitternd umklammerte sie seine Hände: „Gib ihnen den Wagen!“, flehte sie, doch Martin war alles Blut aus dem Gesicht gewichen. „Zu spät“, flüsterte er. Ein russischer Soldat stürmte herein, ein zweiter, das Maschinengewehr im Anschlag, kam dicht hinter ihm. Sie zerrten Martin in den Hof und stellten ihn an die Wand des Kuhstalles. Der Wagen, der konfisziert werden sollte, stand zusammengesunken im Hof. Martin hatte alle vier Reifen aufgeschlitzt. Ein fetter Russe mit einem Schnauzbart gab ein Kommando, worauf die beiden ihre Gewehre hoben. Im selben Augenblick flog die Tür zum Wohnhaus auf. Erni, ihr ältestes Kind, trug den zweijährigen Wolfi am Arm, der strampelte und herunterwollte. „Papa!“, schrie er gellend. „Papa!“ Die Soldaten zögerten einen Augenblick. Ihre Gewehre schwankten. Der dicke Kommandant bellte wieder seinen Befehl. Christine stürzte auf ihn zu und warf sich vor seinen Füßen auf die Knie. „Ich hab zwei Kinder!“, flehte sie. Die beiden Soldaten standen wie Statuen. Doch ihre Augen hingen an ihrem Vorgesetzten, der grimmig das Gesicht verzog und sich anschickte, den feisten Mund zu einem letzten Befehl zu öffnen. Mit einem Blick voll aufkeimenden Begehrens starrte er auf die zarte Frau, die vor ihm auf der Erde kniete und ihr hübsches Gesicht mit dem strengen Haarknoten flehend zu ihm aufwandte. Ihre graubraunen Augen waren fest auf ihn gerichtet, als könnten sie allen Schrecken abwehren: den Tod ihres Mannes, den Verlust ihrer Ehre, die Unschuld ihrer Kinder. Eine Sekunde, zwei, war es totenstill im Hof. Nicht einmal der Kleine wimmerte. Dann hörte man die Stiefel des Kommandanten am Boden scharren und zusammenschlagen. Er hob tatsächlich die Hand zum Gruß, bevor er mit seinen Untergebenen in den Jeep stieg und davonbrauste. Als der Staub sich gelegt hatte, stürzten die Familienmitglieder aufeinander zu und standen noch lange in einem zitternden Knäuel verschlungen.

(C)Maria Harbich-Engels