Das letzte Vorgewende

Leopold trat vors Haus und sah der Sonne zu, wie sie geradezu beiläufig über die grüne Linie des Waldessaumes sprang und das Tal füllte mit Nebelschleiern aus Tau. Er schob den Filzhut in den Nacken, kraulte den schütteren Rest seiner rotbraunen Haare über der Stirne und ließ seine Gedanken dorthin wandern, wo sich dieselbe Sonne glutrot und ungleich größer aus dem Staub des Ackerlandes erhoben hatte: in die Ebene, in der er aufgewachsen war. Dort sah er sich selbst, zwanzigjährig, am Traktor sitzen. Der Motor lief auf hohen Touren und übertrug seine Vibration auf das Lenkrad, das seine Hände umfassten. Die Sonne schien ihm direkt in die Augen: eine riesige rote Scheibe, die sich langsam hinter eine schmale Wolkenbank schob. Als sie oben wieder herauslugte, war er am Ende des Ackers angekommen. Beim Wenden schaukelte quietschend der gefederte Sitz, sein Fuß sprang vom Gaspedal und er ärgerte sich, dass er das Manöver noch immer nicht in dem Tempo beherrschte, das er sich vorgenommen hatte. Rasch drehte er sich nach der Sonne um, die jetzt in seinem Rücken stand, kontrollierte die Bahn, die er gezogen hatte und stellte das Handgas ein. Zehn Minuten brauchte er für eine Länge. Die langen Zinken des Grubbers rissen das Stoppelfeld auf und durchschnitten die feinen Röhrchen, in denen die restliche Feuchtigkeit des Bodens nach oben stieg und verdunstete. Niemand konnte sagen, wann der nächste Regen kommen würde. Er spürte den Staub zwischen den Zähnen und fühlte den Widerstand, den die Ackererde dem Grubber bot. Morgen, nach einem weiteren heißen Tag, würde der Boden so ausgetrocknet sein, dass die Zinken an seiner Oberfläche abgleiten würden. Deshalb war er heute schon lange vor Sonnenaufgang losgefahren. Vierzig Mal wendete er, dann sah er den Pritschenwagen am Feldrand stehen und die zarte Gestalt seiner Mutter. Aufatmend stellte er den Traktor ab, streckte sich und genoss die plötzliche Stille. Er kletterte aus der Kabine und setzte sich neben dem Auto ins trockene Gras. „Bist eh schon weit!“, meinte die Mutter, während sie ihm eine Tupperdose mit Schnitzel und Erdäpfelsalat reichte. „Mmh!“ Leopold sprach mit vollem Mund. „Das ist ja ein Sonntagsessen!“ Mutter senkte den Blick und ihr Sohn dachte einen Moment, sie wäre verlegen. „Vater hat es angeschafft.“, murmelte sie. „Gibt’s was zum Feiern?“ Leopold blickte fragend auf, aber sie hatte sich schon abgewendet und holte eine Flasche mit Ribiselsaft aus dem Auto. Danach erzählte sie eifrig eine Tratschgeschichte aus dem Dorf, sodass Leopold auf seine Frage keine Antwort erhielt. Als die Abendsonne den aufgewirbelten Staub, der wie Nebel über dem Acker lag, rot anleuchtete, grubberte Leopold noch das Vorgewende und fuhr dann müde heim. Durchgedröhnt und durchgeschüttelt freute er sich dennoch an dem Bewusstsein, etwas geleistet zu haben.

Als er aus der Dusche kam, saßen seine Eltern schon in der Küche. Sie hatten mit dem Abendessen auf ihn gewartet. Leopold wunderte sich darüber. In ihre Suppe hinein unterhielten sie sich mit knappen Worten über das Tagwerk. Dann räumte Mutter die Suppenteller ab. Leopold bemerkte ihre hastigen Bewegungen. Während er Senf auf ein kaltes Schnitzel von Zu Mittag strich, betrachtete er forschend den essenden Vater. Er trug seinen graugrünen Leinenanzug, war also heute offenbar geschäftlich unterwegs gewesen. Seine dichten silbergrauen Haare hingen ihm ein wenig in die hohe Stirn, die über seiner edlen Nase und seinem schmalen Mund stand. Die Haut war wettergegerbt und glatt rasiert. Das von großen Ohren umrahmte Gesicht zeigte Strenge und Überlegenheit. Leopold fürchtete den Vater, heute ebenso wie die ganze Kindheit hindurch, und am meisten fürchtete er seinen Blick. Der kam von unten herauf; er hatte es immer so empfunden, obwohl sein Vater schlank und groß war. Und er traf ihn jedes Mal wie ein kalter Strahl, lähmte ihn in Erwartung des Urteils, das vernichtend sein würde. Leopold schauderte davor. Länger als je starrte Ernst Zapf jetzt auf seinen erwachsenen Sohn. Leopold hielt den Atem an, während er dem Blick standzuhalten suchte. Vaters Augen waren wasserhell und von einem Blau wie ein abbrechender Gletscher es hat. Durchsichtig und dennoch undurchdringlich blickten sie über Leopolds Augen hinaus, ein kleines Stück durch diese hindurch, so als fixierten sie sein dahinterliegendes Gehirn. Plötzlich wandte sich der Vater zur Seite mit einer Bewegung, die Leopold stets als verächtlich empfunden hatte und sagte: „Ich werde in den USA eine Farm kaufen. Für den großen Sandacker habe ich mit der Autobahngesellschaft einen guten Preis ausverhandelt. Und wenn ich schon im Verkaufen bin, dann gleich alles. Der Großlechner hat mir schon zugesagt, der hat ja zwei schöne Äcker hergeben müssen. Heute bekam ich ein Angebot aus Texas mit tausendfünfhundert Hektar. Nächste Woche fliege ich hinüber. Wenn alles passt, mach ich es gleich fix. Dann können wir im Herbst dort schon Weizen anbauen.“ Leopolds Augen, sanfte braune Augen, die denen der Mutter glichen, waren während der Rede des Vaters größer und größer geworden. Er wandte sie schließlich der Mutter zu, von der er eine Erklärung erwartete. Doch Erna Zapf hatte keine Erklärung. Er fand seinen eigenen Schrecken in ihrem Gesicht und sah gleichzeitig ihre Hände über die Schultern seines Vaters streichen. Da flammte eine jähe Röte über sein Gesicht. Er sprang auf und schrie heiser: „Du hast Verhandlungen geführt, ohne mich zu fragen?“ Die Mutter räumte den Tisch ab und der Vater sagte: „In Texas haben wir schwarzen Ackerboden bis zum Horizont. Denk dir die riesigen Maschinen, die wir dort einsetzen können!“ Leopolds Blick haftete an den gletscherblauen Augen des Vaters. Ein Frösteln durchfuhr ihn und ließ seinen Aufruhr gefrieren. Er fühlte, wie in seinem Inneren etwas zerbrach. Ihm war, als hörte er den dumpfen Knall, der dabei entstand. „Ich bleibe da.“, sagte er.  Ernst Zapf tat den Widerspruch seines Sohnes ab wie eine Kinderei: „Wo willst du denn wohnen?“ – „Aha, das Haus wird also auch verkauft?“ Das Bild von einem Gletscher, der mit Getöse kalbte und sich dennoch ununterbrochen erneuerte, stand Leopold quälend scharf vor Augen. „Ich gehe nicht mit.“, sagte er mit einer ihm selbst fremden Kälte. „Dafür musst du dir jemand anderen suchen.“ Er hatte das Gefühl, es gäbe nurmehr eine einzige warme Stelle in seinem Inneren, und die gehörte Irene. Seine Freundin konnte nicht nach Texas gehen. Sie war Musikerin und an Wien gebunden. Er würde sich nicht von ihr trennen. Doch er hütete sich davor, ihren Namen auszusprechen. Die Bewegung, mit der der Vater dieses Wort, diesen Menschen, den er liebte, vom Tisch gewischt hätte, wollte er auf keinen Fall sehen; sie wäre tödlich gewesen.

Der feine Frühnebel über dem Tal hatte sich aufgelöst. Leopold Zapf setzte seinen Hut wieder gerade auf und ging in die Milchkammer. Er nahm den Melkeimer von der Wand, der dort zum Trocknen aufgehängt war, stellte ihn auf einen kleinen Wagen, setzte den Deckel darauf, befestigte mit einem Dreh den Pulsator, an den er die Schläuche steckte, nahm zwei frische Eutertücher aus dem Kasten, die Dose mit Melkfett und einen Kübel mit lauwarmem Essigwasser und schob das alles neben den kleinen Melkstand, den er sich gebaut hatte. Mirli hatte ihr feuchtes Flotzmaul schon über die Holzwand gestreckt und glotzte mit ihren dunklen Augen verlangend auf den Schrot, den Leopold in ein Schaff schüttete, bevor er die kleine graue Kuh in den Melkstand ließ. Sie stürzte sich auf das Futter, während er ihr Euter reinigte und die Zitzenbecher der Melkmaschine auf die Zitzen gleiten ließ. Jetzt hatte Leopold wieder Zeit, um nachzudenken. Er war an einer schmerzhaften Stelle stehen geblieben, die er sonst übersprungen hatte, wenn er seinen Kindern erzählte, wie er ins Ennstal gekommen war. Heute ließen sich die Bilder nicht abweisen.

Er sah sich in einer Jazz-Bar am Klavier sitzen. Die Musik war sein Lebensunterhalt und half ihm auch, zu vergessen. Er musste nur die Finger auf den Tasten haben, und schon war alles gut. Während er improvisierte, sah er Irene den schwach beleuchteten Raum betreten. Ihre langen blonden Haare, die sie bei Konzerten so apart aufgesteckt hatte, fielen schlicht auf ihre Schultern. Sie lächelte ihm schon in der Türe zu. Er grüßte mit den Augen und spielte weiter. Sie bahnte sich zwischen den vollbesetzten Tischen einen Weg, winkte im Vorübergehen ein paar Bekannten und war schließlich bei ihm angekommen. Er spielte weiter, während er ihr einen Kuss auf die hingehaltene Wange drückte. Solange er spielte, war alles gut. Irene wusste das nicht. Sie zog seine Hände von den Tasten und ihn an einen Tisch, wo sie ihm vergnügt in die Augen blickte und erzählte, dass sie eine kleine Rolle bei einer konzertanten Aufführung vom „Fliegenden Holländer“ bekommen hatte. Leopold hielt ihre Hände, die auf dem kleinen runden Tisch lagen. Er hielt sich daran fest und starrte in ihre Augen. Sie hatte wasserhelle Augen. Er suchte darin voll Unruhe. Viele Leute haben braune oder gelbe Sprenkel in ihrer Iris. Irene hingegen nicht. Ihre Augen hatten ein Blau, wie ein abbrechender Gletscher sie hat. Leopold spürte seine Finger feucht werden. Sie gruben sich in die zarten Hände seiner Freundin. Mit ungeheurer Kraftanstrengung riss er sich los und rannte zum Klavier. Ein Tisch fiel um. Gläser zerbrachen. Er stürzte zum Flügel wie ein Ertrinkender. Noch bevor er saß, waren die Finger schon auf den Tasten und alles war gut. Er spielte sein eigenes Liebeslied, das er für Irene komponiert hatte, er suchte ihren Blick und legte seine ganze Liebe in die Töne. Anders konnte er sie nicht mehr zeigen, seit sein Vater ihn enterbt hatte und mit seiner Mutter und seiner Schwester nach Texas gegangen war. Irene lebte in der Musik. Sie würde ihn verstehen. Doch sie schob ihren Sessel zurück, stand auf, winkte ihm gekünstelt neckisch zu und verließ sehr schnell das Lokal. Nicht aufhören zu spielen. Nicht aufhören, dachte er. Er spielte länger als in seinem Vertrag stand, er spielte, als das Lokal schon geschlossen war, er spielte, als in der Früh die Putzfrauen kamen, er spielte mit einer Hand, als ihm der Barkeeper einen Toast brachte, er spielte für die Nachmittagsgäste und für die Abendgäste, er spielte, als der Lokalbesitzer kam, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen, er nickte ihm zu und nahm die Finger nicht von den Tasten. Er hatte sie noch immer dort, als er am nächsten Morgen über ihnen zusammenbrach. Er erwachte in einem Spitalsbett; seine ersten Worte waren: „Mir ist so kalt.“ Wochenlang lag er nachts unter einem Berg von Decken und irrte tagsüber im Schianzug durch die geschlossene Station. Jedes Mal, wenn Irene ihn besuchte, brauchte er nachher einen Pullover mehr. Sie weinte über seinem Berg aus Decken, aber er konnte ihr nicht helfen. Sie musste für den „Fliegenden Holländer“ ihren Ersatz singen lassen, dann besuchte sie Leopold nicht mehr.

Mirli schlug mit dem Schwanz und brachte Leopold in die Wirklichkeit zurück. Er streifte das Euter seiner Lieblingskuh sorgfältig aus, nahm das Melkzeug ab und rieb die Zitzen mit Melkfett ein. Danach öffnete er eine Schiebetür und die Kuh ging zurück in den Stall, um Gretl Platz zu machen. Leopold leerte die Milch in der danebenliegenden Milchkammer durch ein Sieb in eine Kanne und widmete sich der zweiten Kuh. Seine Frau Carina streckte ihren Kopf zur Türe herein: „Kann ich mir drei Liter wegnehmen, oder brauchst du alles zum Butter Machen?“ Leopold lächelte sie an. „Du hast mich gerettet!“, sagte er. Carina verdrehte die Augen: „Wo warst du gerade mit deinen Gedanken?“ – „Ich dachte an damals. Erinnerst du dich, als ich ein hoffnungsloser Irrer war?“ – „Du warst nur verwirrt.“, sagte sie und kam vollends herein. Leopold blickte mit Wohlgefallen zu ihr auf. Zu Hause trug sie gerne bunte Kleider und lange selbstverfertigte Ohrringe, die zu ihren kurz geschnittenen dunklen Haaren gut standen. Ihre tiefliegenden kleinen Augen zeigten ihm offen, was sie fühlte, ihre Stupsnase kräuselte sich beim Lachen über einem großen Mund mit dicken Lippen. Während sie nun nachdenklich Gretl hinterm Ohr kraulte, erinnerte sie sich: „Ich war Praktikantin auf der Station und brachte die Oberschwester mit meinen Ideen zur Verzweiflung. Eines Tages bat ich sie, das alte Klavier im Gemeinschaftsraum stimmen zu lassen. Sie ließ sich überreden. So konnte ich am Heiligen Abend die Weihnachtslieder der Patienten begleiten. Ich sehe dich noch vor mir, wie du im Anorak neben einem jungen Mädchen gesessen bist. Sie war festlich gekleidet wie alle anderen. Über deinen Aufzug wunderte sie sich nicht, da sie dich nicht anders kannte. Als ich zu spielen begann, hobst du den Blick. Es war das erste Mal, dass ich deine Augen sah.“ Hier lächelte Carina. Sie nahm ihre Küchenschürze ab und klemmte sie eingerollt unter den Arm. Dann setzte sie sich neben Leopold auf einen Schemel, drückte ihm einen Kuss auf die Wange und fuhr fort: „Ich habe an diesem Abend nicht nur einmal auf deine Füße geschaut, weil ich dachte, du müsstest in einer Lache aus Eiswasser sitzen. Es war wie ein Wunder. Du bist innerhalb kurzer Zeit richtig aufgetaut. Das Mädchen neben dir bemerkte, dass etwas Besonderes im Gange war und hielt dir die Noten zum Mitsingen hin. Du aber hast den Anorak ausgezogen, auf deinen Sessel gelegt und bist zu mir hergekommen, quer durch den ganzen Raum. Die ersten Schritte waren noch so steif und kurz, wie wir es von dir kannten. In der Mitte des Raumes hast du dich gerade aufgerichtet und bist frei und gelöst auf mich zugeschritten. Dann hörte ich zum ersten Mal deine Stimme. Du batest mich, dich ans Klavier zu lassen. Es wurde ein wunderschöner Abend. Du hast gesungen und gespielt, was sich die Leute gewünscht haben. Sie haben geklatscht und mitgesungen bis es Mitternacht war. Wir brachten dich kaum weg von den Tasten. Als du in dein Zimmer gingst, hast du den Anorak wieder angezogen.“ Leopold war inzwischen mit der zweiten Kuh fertig geworden und schob den Wagen in die Milchkammer. Carina fragte: „Kann ich jetzt eigentlich drei Liter Milch haben oder nicht?“ Leopold füllte ihre Kanne, die sie ihm hinhielt und begann mit der Reinigung.

Eine Viertelstunde später saßen sie beim Frühstück. „Thomas hat angerufen, er kommt heute etwas früher zur Klavierstunde und bringt seinen Freund mit, der auch bei dir Unterricht nehmen will.“, sagte Carina und öffnete die Butterdose. „Viel ist da nicht mehr drin.“ – „Morgen gibt es frische Butter. Aber bitte erzähl das Ende. Es tut so gut, das Ende aus deinem Mund zu hören.“ Carina strich sich ein Butterbrot und antwortete: „Innerhalb von einer Woche ist der Deckenberg von deinem Bett verschwunden, ebenso der Schianzug. Drei Wochen später waren alle Medikamente abgesetzt. Ich hatte Angst, du würdest bald entlassen und für immer verschwinden. Damals war ich schon über beide Ohren in dich verliebt.“ Leopold legte einen Arm um ihre Schulter. „Da hast du zu einer List gegriffen und eine Nachbetreuung angeregt.“, sagte er  und kniff sie liebevoll in ihr kleines Ohr. „Die Stationsschwester hatte seit deiner wunderbaren Heilung Vertrauen zu mir gefasst und willigte ein.“ – „So hast du mich also geangelt und auf den kleinen Hof deiner Eltern gebracht.“ – „Die ganz glücklich waren, als sie merkten, dass du ihn gerne übernehmen würdest.“ Nach dem Frühstück ließ Leopold die Kühe auf die Weide. Zufrieden betrachtete er das saftige Gras, das von bunten Blumen durchwirkt war. Er sog den Duft der Kräuter ein und dachte daran, dass im Marchfeld schon überall die Bewässerungsanlagen liefen und an seine Schwester in Texas, die bis heute Heimweh nach dem kleinen Straßendorf hat, in dem sie aufgewachsen ist.