In der Höhle

Elina drehte seufzend ihre langen blonden Haare zu einem dünnen Knoten und stopfte sie unter das Band der Stirnlampe, die ihr rundliches Gesicht mit den kleinen bernsteinfarbigen Augen und den rot bemalten geschwungenen Lippen geisterhaft beleuchtete. Sie musste sich flach auf den Bauch legen, um sich in den Spalt schieben zu können, zu dem sich der unterirdische Weg verengt hatte. Er führte leicht bergauf und war so niedrig, dass sie nicht einmal den Kopf heben konnte. So drehte sie ihn auf die Seite und schloss die Augen, da das von den Felsen zurückgeworfene Licht der Stirnlampe sie blendete. Bisher hatte sich dieses Licht in breiten Gängen und finsteren Hallen fast verloren. Doch nun blendete es sie. Die  beiden Männer, die vor ihr gingen, hatten nur selten nach hinten geblickt. Zügig wanderten sie schon seit über einer Stunde unter Tag, seit sie in die Höhle eingestiegen waren am späten Nachmittag, als die trübe Sonne bereits hinter den aufziehenden Regenwolken verschwunden war. Es war schon etwas spät gewesen für die Tour zu der kleinen Tropfsteinhöhle, zu der sich die Forscher durch wochenlange behutsame Sprengungen Zugang verschafft hatten. Aber früher hatte Elina nicht weg können vom Büro und die beiden wollten ihr unbedingt ihre Neuentdeckung zeigen. Nur selten und nur ihrem Mann zuliebe kam sie mit, da ihr die Höhlenkletterei eigentlich, auch wenn sie das niemals zugeben würde, unheimlich war.

Sie hatte gewusst, dass ihnen ein längerer Marsch bevorstand und war ihren eigenen Gedanken nachgehangen, während ihr Mann seinem Freund auseinandersetzte, wie die wunderschöne Tropfsteinhöhle entstanden sein könnte. So vertieft waren die beiden gewesen, dass sie Elinas Gegenwart vergaßen und nicht bemerkten, wie sie den Anschluss verlor. Sie hatte gerade noch den schwachen Schein der Lampen in der Spalte verschwinden gesehen, sonst hätte sie es nicht für möglich gehalten, dass der Weg sich plötzlich so verengte.

 

Mit bloßen Händen tastete sie sich vorwärts. Der dunkelrote Lack splitterte von ihren Nägeln, während sie ihren in einem Overall steckenden Körper Zentimeter um Zentimeter nachschob. Ab und zu hielt sie an und lauschte angestrengt nach dem Geräusch von am Felsen schürfenden Kleidern, nach dem monotonen Singsang des Fachgesprächs, das sie den ganzen Weg begleitet hatte. Nichts. Kein Schürfen und Schaben, kein Tritt, kein Laut. Wieder schob sie sich ein kleines Stückchen weiter. In ihren Rücken drückte ein scharfer Vorsprung. Er bildete die unterste Kante eines mächtigen Felsens, der hundert Meter über ihr eine schmale Humusschicht trug, die dem Bergwald Nahrung und Halt bot. Vielleicht wurde die Erde gerade vom Regen getränkt, der bei ihrem Einstieg noch in den Wolken gehangen war. Sie stellte sich vor, wie gut der feuchte Waldboden jetzt roch. Hier unten war die Luft schlecht; das merkte sie jetzt deutlich und begann, rascher zu atmen. Dabei drückte ihr Rücken noch stärker gegen den Felsen. Oder drückte der Fels? Hatte er, durch die Sprengungen nach undenklicher Zeit plötzlich Raum fühlend, ein klein wenig nachgegeben? Verbissen arbeitete sie sich weiter. Ihre rechte Wange war schon ganz aufgescheuert und die Engstelle nahm kein Ende. Warum hörte sie die anderen nicht? Die müssten doch längst ihre Abwesenheit bemerkt haben und zurückgekommen sein. Plötzlich steckte Elina vollständig fest. Hatte sie wieder zugenommen? Um die aufsteigende Angst zu unterdrücken, versuchte sie, sich ihr Diätprogramm in Erinnerung zu rufen. Es nutzte nichts. Tränen schossen in ihre Augen. Sie presste die Lippen zusammen, um nicht laut loszuheulen. Hatte sie sich geirrt, als sie Licht in diesem Spalt verschwinden sah? Waren die beiden einen leichteren, für sie eindeutigen Weg gegangen und daher gar nicht auf die Idee gekommen, dass ihre Begleiterin festsaß? Wild hämmerte ihr Herz gegen die Steine. Sie musste hier raus, und wenn es nicht vorwärts ging, dann eben zurück! Die Vorstellung, den langen dunklen Rückweg alleine gehen zu müssen, trieb ihr den Schweiß aus den Poren. Sie erinnerte sich an mehrere Abzweigungen, aber keine hatte sie sich eingeprägt. Sie hatte sie nicht einmal gezählt. Was für ein Leichtsinn! Stattdessen hatte sie über das Bild nachgedacht, das sie gerade malte: die Astgabel eines Urwaldriesen, in der sich eine rotblättrige Kronenpflanze angesiedelt hatte und Farne, die aussahen wie grüne Schweinsohren. Sie hatte überlegt, mit welchen Tieren sie das Bild bevölkern sollte. Der Gedanke an die einsame Staffelei in ihrem kleinen Arbeitszimmer zu Hause schmerzte sie.

Wild entschlossen bewegte sie ihre Hüfte und schob den rechten Fuß zurück. Dann versuchte sie es mit dem linken, vergeblich. Sie winkelte die Arme an und stemmte sich mit aller Kraft gegen den Fels. Umsonst. Sie klemmte fest. Von selbst riss es ihr den Mund auf und sie heulte einen verzweifelten Schrei. Er klang dumpf und erstickte in der engen Spalte. Trotzdem lauschte sie auf Antwort. Totenstille. Oder nein? Jetzt drang ein leises Geräusch an ihr Ohr. Sie erkannte es nicht gleich, da es durch die Höhle seltsam verzerrt wurde. Es war das leise Rieseln von Wasser. Da dachte sie wieder an den Regen, dachte an die Sprengungen, dachte an die vielen Geschichten von durch plötzlichen Wassereintritt eingeschlossenen Höhlenforschern, an die Sorge um ihren Mann, der sie deswegen oft ausgelacht hatte. Rasend vor Angst ruckelte sie ihren Körper hin und her. Sie rief und schrie. Sie tastete mit der Hand den Overall entlang, ob sie vielleicht mit einer Schlaufe hängengeblieben war. Sie quetschte die Finger zwischen Bauch und Fels, zwischen Rücken und Fels. Doch alles, was sie damit erreichte, waren blutige Knöchel. Zwischen ihren von Schluchzen zerrissenen Hilferufen schleckte sie das Blut von den Fingern. Sie schämte sich ihrer Tränen. Gleich würden die beiden zurückkommen und ihr verschmiertes Make-up sehen. Hatte sie ein Taschentuch einstecken? Sie tastete nach der Hosentasche. Da merkte sie, dass sich unter ihr bereits ein Rinnsal gebildet hatte. Der Overall wurde langsam nass. Sie rief und rief. Wie lange würde die Karbidlampe noch Licht geben? Immer ungeordneter wurden ihre Versuche, sich loszureißen. Sie schlug sich den Kopf an und als er zurück auf den Boden fiel, patschte er ins Wasser. Mit letzter Kraft legte sie die Hand unters Gesicht, damit der Mund frei blieb. „Hilfe!“, wimmerte sie, dann dämmerte sie weg.

Plötzlich schreckte Elina auf. Hatte sie geschlafen? Sie fror in ihrem nassen Overall und zitterte unkontrolliert. Ihre klammen Finger schmerzten. Es war stockfinster. Gleichmäßig plätscherte das Wasser. Sie wollte rufen, brachte aber keinen Ton heraus. Sie hatte kein Gefühl mehr für die Zeit, die vergangen war und die Zeit, die gerade verstrich. In Gedanken ging sie den Weg nach draußen. Würde sie ihn finden ohne Licht? Ging er bergauf oder bergab? Sie tastete die Wände ab, den Boden, kroch auf allen Vieren. Warum nur hatte sie nie auf die Abzweigungen geachtet? Sie würde sich verirren, aber schließlich doch den Ausgang erreichen. Es würde Nacht sein. In den Föhren würde der Wind rauschen. Das Bild vom finsteren Wald verschwamm, sie konnte nichts mehr sehen. Sie fühlte einen rissigen Stamm, roch das Harz. Dann war auch diese Vorstellung verschwunden. Kaltes Wasser strömte über ihre aufgeschundenen Hände, drang in ihr rechtes Ohr. Sie merkte es nicht mehr.

Irgendwann traf Licht auf ihre Lider. Langsam, langsam wurde es heller. Sie konnte nicht mehr reagieren. Sie trank das Licht mit geschlossenen Augen, mit der Haut. Es wärmte sie.

Ihr Körper entspannte sich und eine tiefe Erleichterung erfasste sie. Plötzlich war sie frei.

(c) Maria Harbich-Engels