Die Weihnachtslocke

Anna lehnte ihr strohblondes Köpfchen gegen den Türstock des Kinderzimmers. Ihre grünlichen Augen waren halb geschlossen. Hinter der Türe wusste sie das große Geheimnis, dem sie schon wochenlang entgegenfieberte. Da sie Überraschungen liebte, wollte sie gar nicht sehen, was der Vater raschelnd vorbei trug, wenn er ab und zu durch diese Türe schlüpfte. Gleichzeitig jedoch brannte sie darauf, wie alle Kinder kurz vor der weihnachtlichen Bescherung. Alles war doppelt und voller Widersprüche heute. Ihr ganzer kleiner Körper bebte so sehr, dass sie fürchtete, man könnte es bemerken und sie zur Rede stellen. Deshalb schlang sie ihre Ärmchen fest um ihre angezogenen Knie und lauschte angestrengt. Ihr Vater hatte ihr gesagt, er müsse heute dem Christkind helfen, den Christbaum zu schmücken. Sie stellte sich das zum Weihnachtszimmer umfunktionierte Kinderschlafzimmer in goldenem Licht vor. Auch der Vater war in diesem Lichte ganz verklärt. Der Vater, dessen Wutausbrüche sie gerade zu Weihnachten besonders fürchtete, der nervös und angespannt durch die kleine Wohnung lief und den man mit keinem Wort, keiner falschen Bewegung reizen durfte. So kauerte Anna an die Tür des Zimmers gepresst, in dem jetzt das Christkind den Vater ganz gut machte und wehrte sich gegen die Angst, die in ihrem kleinen Körper lauerte.

„Wie kommt denn das Christkind ins Zimmer hinein?“, fragte sie mit dünnem Stimmchen, als der Vater ein unförmiges Ding unter einer Decke vorbeitransportierte. Er schob das Ding und sich selbst rasch ins Zimmer hinein, streckte noch einmal den Kopf heraus und sagte: „Das Christkind kommt zum Fenster herein geflogen.“ Anna sandte einen verstohlenen Blick zum offenen Fenster, das sie gerade durch den Spalt erspähte und sah dann das Christkind mit goldenen Locken und goldenen Flügeln zum Fenster hereinschweben, als die Türe schon längst geschlossen war.

Inzwischen drang der Duft nach gebratenem Fisch aus der Küche. Aber Anna konnte nicht ans Essen denken. Sie schaute nur sorgenvoll von ihrer kleinen Schwester, die mit dicken Fingerchen ihren Breilöffel als Klopfer benützte, zu ihrer Mutter, die mit trotzig geschürzten Lippen zwischen Küche und Wohnzimmer hin- und herhetzte. Der Vater hatte seine Kooperation mit dem Christkind beendet und wartete ungeduldig auf den Weihnachtskarpfen. Er war sichtlich bemüht, seinen Ärger über die Verspätung nicht herauszulassen. Anna sah ihn den Mund so sehr zusammenpressen, dass alles Blut aus der unteren Gesichtshälfte wich. Es strömte anscheinend in die obere. Denn auf der Stirne schwoll eine dicke Ader. Anna folgte mit schreckensweiten Augen dem Blick des Vaters auf die Uhr, die neben dem Bücherregal hing. Der große hölzerne Zeiger wanderte ganz langsam im Kreis. Wo würde er stehen, wenn der Ausbruch begann? Schließlich war die Mutter mit dem Aufdecken fertig und trug das Essen auf. „Ist die Suppe auch heiß?“, fragte der Vater zwischen zusammengebissenen Zähnen. „Ich will, dass sie dampft!“ Anna hoffte inständig, dass die Suppe ausreichend heiß war, obwohl sie sich die Zunge verbrennen würde. Noch mehr hoffte sie auf ein versöhnliches Lächeln der Mutter, das alles entspannen würde. Auf beides hoffte sie vergebens, aber auch der Ausbruch blieb aus. Sie verfolgte den Zeiger, der langsam seine Kurve entlang kroch und wagte nicht, tief zu atmen. Vielleicht konnte sie so das Unheil verhindern. Als alle gesättigt waren, entspannte sich die Situation ein wenig und Anna wagte ein Lächeln zu ihrem Vater hinauf, bevor er wieder hinter der geheimnisvollen Türe verschwand. Jetzt war sogar ihre kleine Schwester still. Sie schaute ohne zu brabbeln mit großen dunklen Augen auf die Mutter, die ein theatralisches Gesicht schnitt. Dann läutete ein Glöckchen und die Tür ging auf. Obwohl das Christkind im letzten Augenblick davongeflogen sein muss – Anna sah gerade noch, wie sich der Vorhang bewegte – übertraf die Herrlichkeit alle ihre Vorstellungen und Erinnerungen. Der große, bunt und süß geschmückte Baum strahlte mit hundert Kerzen. Die kleine Krippe mit den hölzernen Figuren lag in warmem Licht und unter und hinter dem Baum lagen die Geschenke unter Decken versteckt. Anna versuchte, nicht hinzusehen und starrte traumverloren auf die Kerzen, während der Vater mit lauter Stimme ein Weihnachtslied anstimmte. Unwillkürlich zog Anna die Schultern hoch. Die kratzige Stimme klang keineswegs feierlich. Immer noch stand die dicke Ader bedrohlich auf Vaters Stirn. Zwischen den Eltern hatte es beim Abräumen einen gedämpften Wortwechsel gegeben, während dessen die Mutter den Vater angezischt hatte, er solle der Familie mit seiner Ungeduld das Fest nicht verpatzen. Hätte sie nicht einmal pünktlich sein können, fragte sich Anna? Sie wünschte sich so sehr, dass es heute keinen Wutausbruch geben würde und keine Tränen. Andererseits konnte sie die Spannung kaum mehr ertragen. Gedankenverloren hielt sie eine blonde Strähne ihrer Haare über eine brennende Christbaumkerze. Augenblicklich verbreitete sich ein unangenehmer Geruch nach verbranntem Horn im Zimmer. Die Mutter stürzte herbei und untersuchte den angerußten Kopf mit bloßen Händen und der Vater ließ den lange befürchteten Brüller los. Anna brachte kein Wort hervor. Sie blickte forschend und schließlich erleichtert von Mutter zu Vater. Schmollmund und Zornesader hatte der Schreck weggeblasen. Weihnachten war gerettet. Anna wusste, dass der Vater nach einem Ausbruch immer besonders freundlich war, weil er ein schlechtes Gewissen hatte. Es bestand daher die Chance, dass es noch richtig lustig und gemütlich werden würde. Anna beschloss, die versengte Locke, die die Mutter abgeschnitten hatte, aufzuheben. Sie hatte für ein Jahr Weihnachten gerettet. Und ein Jahr war sehr lange für Anna, beinahe ein ganzes Leben lang.

© Maria Harbich-Engels