Leere Hände

Tiefblau und still kroch die Nacht in das Tal am Rande der Wüste. Sie zog einen Sternenmantel hinter sich her und schaute gelassen auf die Feuer der Hirten. Drei brannten groß und hell und in gebührendem Abstand voneinander auf dem breiten Talboden. Eines, ein ganz kleines, verglühte bereits am steinigen Hang. Ruth, die Hirtin, hockte fast in der Glut, um ihren alten Rücken zu wärmen. Ihr faltiges Gesicht lag tief im Schatten. Es war hinauf nach Bethlehem gerichtet, dessen würfelförmige Häuser sich dicht auf der Hügelkuppe drängten. Mit ihren großen, fast schwarzen Augen, deren Brauen von Silberfäden durchzogen waren, suchte Ruth das Haus ihrer Familie. Das weitläufige flache Dach überragte alle anderen Dächer der Stadt. Unter dem Einfluss seiner schönen jungen Frau hatte ihr Sohn ihr Elternhaus viel zu groß ausgebaut und in eine Fremdenherberge verwandelt, die niemals zur Ruhe kam. Seither wich der gehetzte Ausdruck nur dann aus seinem Gesicht, wenn er über seine Kinder stolperte und sie ungeduldig aus dem Weg scheuchte. Was nützte ihm das viele Geld, das er jetzt während der Volkszählung verdiente, wenn seine Familie dabei zugrunde ging? Seufzend barg Ruth das Gesicht in ihren schwieligen Händen. Bevor sie das mit ansehen musste, saß sie lieber bei den Schafen, die zusammengekuschelt in einer Mulde schliefen. Hier kam sie zur Ruhe. Es kümmerte sie nicht, dass man in Bethlehem darüber tuschelte, warum ausgerechnet sie die Schafe hütete, wo doch üblicherweise heimatlose Männer dafür angeheuert wurden.

So wachte nun Ruth abseits der großen Hirtenfeuer von Bethlehem, als plötzlich ein Wehen sie aufschreckte. Die Pinien seufzten und die letzten Funken des Feuers stoben hoch in den Himmel. Der aber hatte sich seltsam verändert. Zum Morgen war es noch lange; dennoch wurde es heller und heller. Bald lagen die Schafe in gleißendem Licht und die dornigen Büsche warfen Schatten als wäre es heller Tag. Ruth hob die Augen und bedeckte sie gleich wieder. Hatte sie einen Engel gesehen? Zitternd spähte sie zwischen ihren rußigen Fingern hindurch. Sie sollte sich wohl auf die Erde niederwerfen, doch ihr Blick kam nicht los von dem strahlenden Wesen, das da über den Pinien schwebte und zu ihr sprach: „Bei dir zu Hause, in Eurem Stall, dort wurde der Heiland geboren!“ Das Licht verblasste wieder, nicht jedoch die brennende Sehnsucht, die der Engel in ihr wachgerufen hatte. „Friede, Friede, Friede den Menschen auf Erden, die guten Willens sind!“ Ruth hatte keine Zeit nach den Sängern zu sehen. In ihrem Licht fand sie spielend den Weg zwischen den Steinen; sie sprang über die Mauern wie ein junges Mädchen. Sie sprang, keuchte, rannte und sprang.

Nach Atem ringend riss sie schließlich die Stalltüre auf. Der Geruch ihres alten Ochsen schlug ihr entgegen. Jemand hatte seine Futterraufe gefüllt und er kaute seelenruhig an den trockenen Halmen, obwohl er sie mit einem prächtigen jungen Esel teilen musste. Weiter hinten im Stall, dort wo seine Wände schon aus dem Berg geschlagen waren, flackerte ein kleines Feuer und beleuchtete das Gesicht eines älteren Mannes, der getrockneten Dung an der Wand aufstapelte. Immer wieder hob er das von grauen Haaren umrahmte Gesicht zu der blutjungen Frau, die auf ein Strohlager gebettet war. Mit einem Ausdruck von rührender Schüchternheit senkte er es jedoch gleich wieder, ohne die Freude verbergen zu können, die aus seinen markanten Zügen strahlte. Ein neugeborenes Kind lag auf dem Bauch der Frau. Es war in Windeln gewickelt; nur das schwarz beflaumte Köpfchen konnte man sehen, das sich schwankend hob und dann wieder an die Brust der Mutter fiel. Der Mann beachtete Ruth gar nicht, als wäre es selbstverständlich, dass sie hier stand und das Kind anstarrte. Jetzt hob es wieder sein Köpfchen, ein Auge machte es auf. Ruth sank in die Knie. Helle Scham brannte in ihr. Ausgerechnet ihre Familie hatte dem Heiland eine menschenwürdige Unterkunft verweigert. Sie fühlte sich schuldig; sie hätte nicht zu den Schafen fliehen sollen, sondern im Haus nach dem Rechten sehen. Sie hätte dem Heiland wenigstens ein schönes Zimmer vorbereiten müssen. Zerknirscht betrachtete sie ihre leeren schrundigen Hände. Dann legte sie sie langsam auf den Boden, stützte sich ab und schob sich Richtung Ausgang. Hier hatte sie nichts verloren, warum bloß war sie hier eingedrungen?

Kaum noch hatte sie sich vom Platz bewegt, als mit einem Mal alle drei, der Mann, die Frau und das Kind erschrocken zu ihr her blickten. Der Esel hörte auf, an den Halmen zu knabbern und das mahlende Geräusch des Wiederkäuens ihres Ochsen setzte aus. Ein Windstoß drückte die Stalltüre auf, fegte den Staub in die Höhe und drückte die Flammen zu Boden. Qualm kroch in alle Winkel und trieb Ruth Tränen in die Augen. Hatte sie sich anfangs wider Erwarten willkommen gefühlt, kam jetzt ein tiefes Unbehagen auf. Woher war es gekommen? Was hatte sie getan? Wieder betrachtete sie ihre leeren Hände. Die allein hatten niemanden erschreckt. Erst als sie dem Ausgang entgegen tasteten, trafen sie bestürzte Blicke. Zögernd hob sie die Hände wieder, wendete sie unschlüssig hin und her und streckte sie langsam dem Kind entgegen. Dem Mann gelang es, das Feuer wieder zu entfachen, der Rauch zog durch die Ritzen zwischen den Brettern des Vorbaues ab. Die junge Frau wischte dem Kind über die brennenden Augen. Dann lächelte sie.

Als Ruth in der kalten Stunde vor Sonnenaufgang wieder an ihrem eigenen Feuer stand und die Schafe zählte, schaute sie noch einmal auf ihre leeren Hände und murmelte kopfschüttelnd: „Der Heiland hat mich trotzdem lieb!“ Sie hob sie zum Himmel, an dem die verblassenden Sterne sie an das Lied der Engel erinnerten. Ihr Körper begann sich zu wiegen, die Füße zu wippen. Sie drehte sich neben dem Feuer im Kreis, schneller und schneller; ihr wirbelnder Schatten tanzte am steinigen Hang. „Friede den Menschen!“, sang sie, „Friede den Kindern!“, rief sie nach Bethlehem hinauf und „Friede meinem enttäuschten Herzen!“, dachte sie, während glutrot aus dem Wüstensand der erste Tag der neuen Zeitrechnung heraufstieg.

(c)Maria Harbich-Engels