Weihnachten 1945

Als ich fünfzehn war, gab es in Aderklaa keine Straßenbeleuchtung. Auch Wien strahlte kein künstliches Licht aus. Oft bin ich bei Sternenlicht von Deutsch-Wagram nach Hause gegangen. In jener Nacht aber waren die Sterne hinter einer dicken Nebelschicht verborgen. Die zwei Straßen, die das alte Kirchlein von Aderklaa und den Dorfanger umschlossen, lagen in tiefer Dunkelheit. Ich sah es von meinem Strohsack aus. Oder besser, ich sah nichts, nicht das schiefe Fensterkreuz, nicht das notdürftig geflickte Loch in der Fassade, das eine russische Granate gerissen hatte, nicht meinen Bruder, der mit mir das kalte Gassenzimmer teilte. Ich hörte seinen Strohsack knistern, wenn er sich unruhig hin und her wälzte. Ich hörte die Eiszapfen leise klirren, wenn mein Zittern sie vom Bettgestell herunter schüttelte. Doch heute war nicht die schreckliche Kälte mein größtes Problem, sondern das Datum. Übermorgen war Weihnachten und meine Mutter zu Tode erschöpft von ihren Anstrengungen, nach unserer Rückkehr aus Vorarlberg, wohin wir vor den Russen geflohen waren, das kriegsversehrte Bauernhaus wieder bewohnbar zu machen. Mein Vater war erst vor wenigen Tagen aus der Kriegsgefangenschaft nach Hause zurückgekehrt. Auch wenn ich selten satt wurde und Tag und Nacht in kratzigen Flüchtlingskleidern steckte – ein Jahr ohne Christbaum konnte ich mir nicht vorstellen. Wieder raschelte der Strohsack neben mir und plötzlich hörte ich meinen Bruder triumphierend schreien: „Ich hab sie!“, während etwas in der Zimmerecke an die Wand klatschte. Nachdem er die Maus aus seinem Strohsack entfernt hatte, konnte mein Bruder endlich einschlafen. Ich stieg aus dem Bett, schlüpfte in die eisigen Schuhe, knüpfte mir bebend die Bettdecke um die Schultern und schlich aus dem Haus. Durch den Hof tastete ich mich blind. Auch die Säge konnte ich finden, mit der ich gestern die zersplitterten Bretter unseres Stadels zu Brennholz zerkleinert hatte. Mit vorgestreckten Armen, die Säge wie ein Schwert in der Hand, versuchte ich, die Richtung nach Norden einzuhalten. Plötzlich drang ein winziges Geräusch an mein Ohr. Ich konnte es nicht benennen, aber es fühlte sich menschlich an. Ich tastete mit den Füßen den Feldrand entlang. Der gefrorene Boden strahlte eine mörderische Kälte aus, aber ich hatte keine Hand übrig, um mich fester in die Decke zu wickeln. Für Sekunden tauchte der verborgene Mond den Nebel in ein düsteres Licht. Aus dem Augenwinkel konnte ich auf der anderen Seite des Ackers eine Gestalt erkennen. Dann verschluckte sie wieder die Finsternis. Wer war das, der da drüben ging? Verfolgte er mich? War er vielleicht auf meine Decke aus? Wenn er vorher nichts von mir gewusst hatte – jetzt hatte er mich bestimmt gesehen. Auf einmal dröhnten meine vorsichtigen Schritte wie Signale durch die Totenstille. Sollte ich um Hilfe schreien? Ich war schon zu weit weg vom Dorf. Niemand würde mich hören. Also stolperte ich weiter und taumelte mitten in einen stacheligen Strauch. Wenn ich jetzt meine Decke zerriss, war es mit dem Weihnachtsfrieden vorbei. Dem Verfolger wollte ich sie auch nicht überlassen. So stach ich mir die Finger wund bis sie endlich frei war. Abermals schimmerte bleiches Mondlicht durch den Nebel. Wie Gespenster standen Hollerbüsche und Föhren um mich herum. Ich suchte mir eine kleine Föhre aus und begann zu sägen. Fast war ich schon durch, als ein Gefühl der Bedrohung in mir hochstieg und ich unsicher den Kopf hob. Ich zuckte zusammen und schämte mich, dass ich nicht aufhören konnte zu zittern. „Borgst du mir die Säge?“ Die Stimme des Burschen war rau. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, aber sein höhnischer Ausdruck war mir in böser Erinnerung. „Streber! Streber!“, hatte er geschrien, nur weil ich in der Schule besser war als er. Er trieb es so lang, bis ich im Unterricht gar nicht mehr aufpasste, um nur ja keine guten Noten zu bekommen. Die ganze Freude am Lernen hat er mir verdorben. „Jetzt kann ich es ihm heimzahlen!“, schoss es mir durch den Kopf. Er war zwar stärker, aber ich hatte die Säge gleich einer Waffe in der Hand. Ich erinnerte mich an meine ohnmächtige Wut gegen ihn, während ich ihn anstarrte. Wie eine schwarze Säule stand er zwischen den Hollerbüschen. Ich bückte mich wieder und sägte den Stamm fertig durch. Dabei fiel mir der Heilige Abend ein. ‚Er möchte auch Weihnachten feiern.‘, dachte ich im Aufstehen. Nachdenklich betrachtete ich die Säge in meiner Hand. Sie konnte ein Werkzeug sein, oder eine Waffe, je nachdem, wie ich entschied. Wortlos hielt ich dem anderen die Säge hin, mit dem Griff zuerst. Sofort spürte ich, dass das die richtige Seite war. Als der andere eine kleine Föhre ausgesucht und abgesägt hatte, schulterten wir beide unsere Bäumchen und waren heilfroh, als wir den Dorfrand wieder erreichten.

Mutter kochte am nächsten Tag aus den Zuckerrübenschnitten, die das Weihnachtsschwein sowieso nicht mehr brauchte, die Melasse heraus. Dann trocknete sie die Masse und schnitt sie in Stücke. Ich wickelte die Zuckerl in fransig geschnittenes Zeitungspapier. Danach strich ich etliche Bockerl, die ich ebenfalls aus dem Wäldchen geholt hatte, mit silberner Ofenpaste an und verteilte sie auf der kleinen Föhre, abwechselnd mit den Melassezuckerln. Wo ich die drei dünnen Kerzenstumpen aufgetrieben hatte, weiß ich nicht mehr. Die Flämmchen spiegelten sich am heiligen Abend in den Augen meines Bruders, während die Eltern verstohlen ihre Tränen abwischten. Mit dem Burschen aus der Nachbarschaft habe ich nie über das Ereignis gesprochen, aber Zeit unseres Lebens fiel keine Gemeinheit zwischen uns.

Maria Harbich-Engels