Wie die Rüben

„Man kann die Kinder nicht aufwachsen lassen wie die Rüben!“ Diesen Satz hab ich schon oft gehört, aber nie so ganz verstanden. Was ist an den Rüben so schlecht, dachte ich mir, man baut sie an und dann wachsen sie eben, je nach Witterung und Bodenbeschaffenheit besser oder weniger gut.

Da ich mich für Kinderbücher interessiere, hat mir jemand „Owen Skye“ von Alan Cumyn geschenkt, laut Klappentext eine „warmherzige Geschichte über eine erlebnisreiche Kindheit“. In einem alten verlotterten Bauernhaus in Kanada lebt eine Familie mit drei Buben. Die einzige Erziehungsmethode des Vaters, eines glücklosen Versicherungsbeamten, sind Schläge mit einem krummen Lineal, das er selbst einmal gestohlen hat. Die Mutter spricht zwar manchmal Verbote aus (die meist nicht eingehalten werden), kümmert sich aber sonst eher um ihre Freundinnen als um die Kinder. Sich selbst überlassen leben die drei Buben in einer irrealen und magischen Welt, die sie sich aus Comics und unverstandenen Zeitungsinformationen zusammengereimt haben. Die Eltern bleiben alle notwendigen Erklärungen schuldig, wie z.B. warum etwas gefährlich ist. Daher fehlt den Kindern die reale Einschätzung der Gefahr, was sie unter anderem beinahe unter die Räder eines Schnellzuges bringt.

Oder wie das mit dem Kinderkriegen und Heiraten ist. Da die Eltern nicht mit ihnen darüber reden, ziehen die Kinder absonderliche Schlüsse aus dem Verhalten der Erwachsenen. Das Geschenk, das Owen, der mittlere Bruder, seiner Angebeteten bringt, hat er aus dem Mistkübel gefischt. Am Ende der Geschichte schwimmt es symbolträchtig den Bach hinunter.

Das wohl treffendste Bild für diese unbehütete und „unbedachte“ Kindheit ist das undichte Dach des Bauernhauses. Bei Regen sind alle damit beschäftigt, Kübel unterzustellen.

Als ich das Buch weglegte, war mir plötzlich klar, dass Kinder mehr Aufmerksamkeit verdienen als Rüben. Gute Verhaltensweisen für ein friedliches Miteinander und ein gediegenes Arbeiten, Konfliktfähigkeit, Verantwortungsbewusstsein, das alles entsteht nicht von selbst. Ich verstand, dass das viel Zeit braucht: Zeit, um die Kinder verstehen zu lernen, sich mit ihnen auseinander zu setzen und Zeit zum Begründen und Erklären, warum dieses oder jenes so ist, welchen Sinn und welche Wirkung auf sich selbst und auf die Mitmenschen es hat.