Der bunte Drachen Fantasie

In manchen Buchhandlungen gibt es eine große Fantasy–Abteilung. Beginnt man zu schmökern, findet man Drachen, Elfen, Gnome u.s.w., neuerdings sogar Engel und Dämonen. Aber Vorsicht! Nicht immer legt man ein Buch, das man neugierig begonnen hat, mit dem zufriedenen Gefühl nach einem schönen spannenden Abenteuer weg. Oft werden einzelne Elemente aus alten Geschichten herausgerissen und mit Modethemen verknüpft. Der Leser erhebt die Flügel der Fantasie und landet unsanft im Nichts.

Aber ist sie nicht wichtig, die vielgepriesene Fantasie? Was wir brauchen und durch die Überfütterung durch die Medien weitgehend entbehren ist die Vorstellungsgabe. Dr. Stanley Greenspan, erfolgreicher amerikanischer Kinderpsychiater, sagt, das Vorstellungsvermögen ist die Leinwand, auf die der Geist Möglichkeiten jenseits dessen, was der Fall ist, projiziert. Der Mensch braucht es, um sich selbst besser zu verstehen und als Fundament jeden höhern Denkens. Mit einem schwachen Vorstellungsvermögen ist er nicht nur emotional ärmer, sondern auch erheblich dümmer.

Das kleine Kind spielt mit einem Plastikpferd, als wäre es lebendig. Später kann es auch ein Stück Holz nehmen oder ein Auto und sagen, das sei ein Pferd. Langsam, je nach Begabung und Förderung durch die Eltern, wird die Vorstellungswelt des Kindes immer komplexer. Sie ist die Voraussetzung für die Kreativität, die nicht nur für unser Gemüt so wichtig ist, sondern auch für unser Denken (Flexibilität u.s.w.). Gute Manager und erfolgreiche Betriebsführer haben viel davon, deshalb ist in ihrer Ausbildung die schöpferische Tätigkeit ein wichtiger Faktor.

Ich komme noch einmal zurück zum ersten Gedanken: Ist Fantasie nicht wichtig? Anne auf Green Gables, ein Film, in dem Nutzen und Gefahren einer Fantasiewelt schön zum Ausdruck kommen, fragt ihre zukünftige Ziehmutter: „Hast du dir die Dinge noch nie anders vorgestellt, als sie sind?“ Diese Frage steht am Anfang jeder Entwicklung (im Sinne von Veränderung, Verbesserung). Aber die Vorstellungswelt muss ganz fest verwurzelt sein im realen Leben. Bei vielen alten Märchen ist das so. Sie erzählen zwar von Zwergen und sprechenden Tieren, aber das Stück Wahrheit, das sie uns zeigen, ist sehr tief aus dem Leben gegriffen. Manchmal gelingt so etwas auch neueren Autoren, wie Mira Lobe in vielen ihrer Bücher oder wie Michaela Weninger und Eve Tharlet mit ihren „Pauli“–Geschichten, Irina Korschunow mit dem „Findefuchs“, Astrid Lindgren mit „Mio, mein Mio“, Otfried Preußler mit „Krabat“ oder auch J.R.R. Tolkien, dessen „Herr der Ringe“ auf Grund seines Erfolges die Fantasy-Welle losgetreten hat.

Ich glaube, wir können ihn ruhig fliegen lassen, den bunten Drachen Fantasie, aber wir dürfen nicht vergessen, ihn ganz fest auf der Erde anzubinden.